Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mit verdeckten Karten

Mit verdeckten Karten

Titel: Mit verdeckten Karten
Autoren: Alexandra Marinina
Vom Netzwerk:
natürlich auf, sie erklärten, sie könnten aufgrund ihrer naturbedingten Zerfahrenheit nicht garantieren, jeden Morgen pünktlich um neun zu erscheinen. Der demokratische Tarassow war zu einem Kompromiß bereit. Er sei kein Tyrann, sagte er und erlaubte den Frauen, sich jeden zweiten Tag zu verspäten. Heute die Koroljowa, morgen die Naumenko. Da sollten die Damen sich bitte selbst absprechen. Aber das Büro müsse in jedem Fall ab neun Uhr geöffnet sein für den Publikumsverkehr. Für die Chefs gelte diese Regel natürlich nicht, der Publikumsverkehr sei nicht ihre Sache, dafür seien die Sachbearbeiter da, die alles wüßten und könnten. Die Aufgabe der Chefs sei es, ihre Untergebenen zu führen. An diesem Tag war die Koroljowa an der Reihe, als erste pünktlich um neun Uhr im Büro zu erscheinen. Deshalb war sie nicht darauf gefaßt, daß schon jemand da war, als sie kam. Sie trat ein, aber niemand war zu sehen, völlige Stille. Sie öffnete den Schrank, sah Tarassows Mantel auf dem Bügel hängen und rief nach ihm. Keine Antwort. Sie zog ihren Mantel aus, ging in die Küche, um Teewasser aufzusetzen, und da lag die Leiche. Das ist im Grunde schon alles. Um neun Uhr zehn wußte der Sicherheitsdienst des Zentrums für Internationale Beziehungen Bescheid, um neun Uhr dreizehn erreichte die Meldung den Bereitschaftsdienst der Hauptverwaltung für Innere Angelegenheiten. Der Bereitschaftsdienst war um neun Uhr vierzig am Tatort. Jetzt wird die Leiche zu Ajrumjan zur Obduktion gebracht, aber man sieht auf den ersten Blick, daß der Mann erwürgt wurde.«
    »Eine schöne Geschichte«, sagte Nastja nachdenklich. »Irina wird ihn kaum erwürgt haben können, wenn sie noch so ist, wie sie damals war. Klein und mager, die hätte für so was nicht die Kraft. Was denkst du, wird man uns diesen Fall anhängen, oder werden die Bezirksbehörden allein damit fertig?«
    »Man hat ihn uns schon angehängt«, erwiderte Korotkow düster. »Dieser Mord gefällt mir nicht, Nastja, er gefällt mir ganz und gar nicht.«
    »Hör auf zu jammern! Es ist ganz normal, daß dir der Mord nicht gefällt.«
    »Warum ist das normal?«
    »Weil einem normalen Menschen ein Mord niemals gefallen kann.«
    »Ich meine doch etwas ganz anderes . . .«
    »Ich weiß, wie du es meinst. Fährst du jetzt nach Hause, um dich auszuschlafen?«
    »Schön wär’s!« Korotkow winkte resigniert ab. »In einer Stunde kommt mein Junge von der Schule nach Hause, in einem Zimmer hantiert meine Schwiegermutter herum, im anderen er. Da versuch mal zu schlafen! Ich werde bis zum Abend warten müssen. Vielleicht kann ich noch irgendwas Nützliches tun. Du hast mir noch eine Tasse Kaffee versprochen, wenn ich mich nicht irre.«
    Nastja stellte erneut den Wasserkocher an und begann, Platz auf ihrem Schreibtisch zu schaffen. Nachdem sie die Papiere und Hefter zur Seite geschoben hatte, breitete sie einige leere Blätter vor sich aus. In kurzer Zeit würden diese Blätter mit Wörtern vollgekritzelt sein, die nur sie selbst verstand, mit Kringeln, Häkchen und Pfeilen. Auf den Blättern würden verschiedene Versionen entstehen, über denen Nastja lange brüten würde, um zu versuchen zu verstehen, warum und von wem Jurij Jefimowitsch Tarassow ermordet wurde.
    4
    Er saß im Bus und sah mit blicklosen Augen aus dem Fenster. Als er am heutigen Morgen ins Büro gekommen war und als erstes, wie immer, den Lagebericht durchgelesen hatte, hatte er von dem Mord an Tarassow erfahren. Er starrte auf die Zeilen, die der Drucker auswarf, und konnte nicht begreifen, daß es sich nicht um einen Namensvetter von Jurij Jefimowitsch handelte, sondern wirklich um ihn selbst. Die Nachricht brachte ihn aus der Fassung. Er konnte nicht glauben, was er las, stürzte sofort zum Telefon und wählte Tarassows Privatnummer. Aber alles erwies sich als wahr. Er hatte nicht mit Tarassows Frau sprechen wollen, weil er sicher war, daß sie von der Miliz bereits Anweisung erhalten hatte, die Namen aller Anrufer zu notieren, den Grund der Anrufe, die Uhrzeit. Es hatte genügt, ihre Stimme zu hören, um zu begreifen, daß ein Unglück geschehen war.
    Und was soll ich jetzt machen? fragte sich Platonow und schämte sich sofort seines Gedankens. Tarassow war tot, und er dachte nur an seine eigenen Probleme und Schwierigkeiten. Es gab den Menschen nicht mehr, auf den er sich verlassen konnte, dem er grenzenlos vertraute. Es gab den Menschen nicht mehr, ohne dessen Hilfe er nicht auskommen konnte. Wieder war er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher