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Mit verdeckten Karten

Mit verdeckten Karten

Titel: Mit verdeckten Karten
Autoren: Alexandra Marinina
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ihm erzählen.
    Zum ersten Mal seit vielen Jahren stieg in ihr eine Welle des Mitgefühls und der Zärtlichkeit auf. Kira Lewtschenko hatte noch nie jemanden geliebt außer ihrem geschiedenen Mann, dafür war sie zu kalt und leidenschaftslos. Manche Männer weckten Interesse in ihr, sie erlaubte ihnen, sie zu umwerben, sie schlief mit ihnen und verbarg dabei ein aufrichtiges Gefühl von Langeweile. Für keinen von ihnen hatte sie je Wärme empfunden, nach keinem hatte sie sich jemals gesehnt, nie hatte sie mit Ungeduld das nächste Treffen erwartet. Aber heute, nachdem sie begriffen hatte, daß sie Platonow nicht ermorden konnte, wurde ihr plötzlich klar, daß er ihr nicht gleichgültig war, daß sie Zuneigung für ihn empfand. Sie hatte sich ein Spiel ausgedacht, sie hatte Dima benutzt, um sich an dem Gefühl der Gefahr zu berauschen, sich einen ungewöhnlichen Kick zu verschaffen, aber schließlich war sie zur Mutter geworden, die ihr Kind bewachte und beschützte, ihm dabei half, aus einer schwierigen und gefährlichen Situation herauszukommen.
    Sie ging schneller und schneller, fast im Laufschritt erreichte sie die Rolltreppe. Wenn ihr nicht einfallen würde, wie sie sich selbst und Dima retten konnte, wenn ihr bis Mittwoch morgen nichts einfallen würde, würden sie beide am Abend desselben Tages tot sein. Beider Namen und die Adresse waren bekannt. Sie hatten noch zweieinhalb Tage zu leben. Leben, leben. . .
    6
    Andrej Tschernyschew erschien mit dem riesigen Kyrill an der Leine, seinem geliebten Schäferhund, in dessen Stammbuch ein langer, kaum auszusprechender Name stand. Tschernyschew hatte ihm nur das K und R entnommen und Kyrill daraus gemacht, so daß sein Hund einen gängigen Menschennamen trug.
    »Du machst mir meinen Hund kaputt«, sagte er gleich auf der Türschwelle. »Ein Hund darf nur zu Hause fressen, aus seinem eigenen Napf. Den Napf habe ich mitgebracht.«
    »Hast du auch die Fahrpläne mitgebracht?« fragte Nastja und tätschelte Kyrill sanft das Fell. Der Hund war nicht ausgesprochen freundlich, aber er akzeptierte Nastja als alte Bekannte. Einmal, als er sie bei der Jagd auf einen bewaffneten Verbrecher aus dessen Schußlinie brachte, prallte Nastja mit der Schulter gegen eine Eisentür, die nach innen aufging, sie fiel hin, schlug sich das Knie auf und brach sich den Absatz ihres Schuhs ab, wonach Kyrill sich noch lange Zeit schuldig fühlte. Ein anderes Mal, vor anderthalb Jahren, als Nastja von Verbrechern mit der Behauptung bedroht wurde, sie seien im Besitz ihres Wohnungsschlüssels, verbrachte Kyrill eine ganze Nacht mit ihr und beschützte sie nicht nur, sondern tröstete sie sogar.
    »Die Fahrpläne habe ich auch mitgebracht. Hier!« Andrej reichte ihr neun dünne Broschüren. »Kannst du mir erklären, was das alles soll?«
    »Kann ich«, sagte Nastja, während sie sich an den Computer setzte. »Komm her! Sieh mal, hier sind die Stellen, an denen die Leichen gefunden wurden. Wir sind davon ausgegangen, daß der Mörder immer in etwa dieselbe Entfernung zum Tatort zurückgelegt hat, und unter dieser Annahme haben wir versucht, seinen Wohnort einzukreisen. Aber vielleicht geht es gar nicht um Entfernung, sondern um Zeit. Vielleicht tötet er an den Orten, die er in einer bestimmten Zeit erreichen kann, zum Beispiel in zwei Stunden. Er rechnet nicht in Kilometern, sondern in Stunden und Minuten. Verstehst du den Unterschied?«
    »Mehr oder weniger«, sagte Andrej mit einem vagen Kopfnicken. »Aber was folgt daraus?«
    »Daraus folgt, daß alles davon abhängt, wie weit entfernt der Mörder von den einzelnen Bahnhöfen wohnt. Die Züge fahren alle gleich schnell, aber bis zu dem einen Bahnhof braucht er fünf Minuten und bis zu einem anderen eine Stunde. Deshalb fährt er von einem Bahnhof hundert Kilometer aus der Stadt hinaus, und von einem anderen nur zwanzig. Wir beide werden uns jetzt die Fahrpläne vornehmen und ausrechnen, wie lange die Züge bis zu den Bahnhöfen fahren, in deren Umgebung die Leichen gefunden wurden. Dabei werden wir davon ausgehen, daß er zu dem am weitesten entfernten Tatort von dem Bahnhof abgefahren ist, der seinem Wohnort am nächsten liegt. Und so weiter. Hast du meine Idee verstanden?«
    »Die Idee als solche schon. Ich verstehe nur nicht, wie du sie umsetzen willst.«
    »Was gibt es da nicht zu verstehen?« Nastja wurde ärgerlich. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn man sie in ihrem Galopp bremste.
    »Wir rechnen die Fahrzeiten aus, das ist klar. Aber
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