Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mit verdeckten Karten

Mit verdeckten Karten

Titel: Mit verdeckten Karten
Autoren: Alexandra Marinina
Vom Netzwerk:
In diesem Rudel herrschen Wolfsgesetze. Das war’s, Vitalij Wassiljewitsch, das Gespräch ist beendet. Handeln Sie. Und zögern Sie nicht!«
    5
    Endlich fand Kira die Kraft, um sich von der Bank zu erheben. Sie hatte nicht einmal bemerkt, daß sie fast drei Stunden hier gesessen hatte. Wie schnell ein Tag vergeht, dachte sie wehmütig. Im Nu wird es Mittwoch morgen sein. Ich muß etwas unternehmen. Aber was?
    Sie dachte daran, die Kamenskaja oder General Satotschny anzurufen. Sie würden ihr bestimmt helfen können, sie wußten, wie sie aus der Falle herauskommen konnte, in die sie durch eigene Schuld geraten war. Aber sofort wurde Kira klar, daß sie ein so schwerwiegendes und gefährliches Gespräch nicht am Telefon führen konnte, und ein Treffen war riskant. Es blieb nur noch Russanow übrig, der einzige Mensch, den sie nicht fürchtete, weil er Dmitrijs Freund war. Ein Treffen mit ihm würde keine schlimmen Folgen haben, selbst dann, wenn er danach ihre Spur verfolgen und herausfinden würde, wo Platonow sich versteckte. Sie mußte Sergej anrufen. Das war die einzige Möglichkeit.
    Sie ging langsam über den Boulevard und überlegte, wie sie das Gespräch beginnen sollte. Schon mehrere Telefonzellen waren am Straßenrand aufgetaucht, aber sie ging weiter. Sie erinnerte sich daran, daß sich zwei Häuserblocks weiter, neben dem Kino, eine Telefonzelle befand, aus der sie Russanow schon einmal angerufen hatte. Vielleicht war das ein gutes Omen. Sie würde von diesem Telefon aus anrufen, vielleicht würde es ihr erneut Glück bringen.
    Sie betrat die Telefonzelle, nahm ihre Geldbörse aus der Tasche und begann, eine Telefonmünze zu suchen. Mit einem kurzen Blick streifte sie die mit Telefonnummern vollgeschriebene Zellenwand und lächelte, als sie eine der Kritzeleien wiedererkannte. »Lena, ich sterbe ohne dich, warum gehst du nicht ans Telefon?« stand da in schnörkeliger Schönschrift. Schon beim letzten Mal hatte sie an dieser Stelle gelächelt. Etwas weiter oben mußte die Telefonnummer einer Frau mit einem exotischen Namen stehen. Ja, genau, da war sie. 214 10 30 Saule Muchamedijarowna. Name und Nummer waren mit blauem Filzstift an die helle Kunststoffwand geschrieben.
    Ein scharfer Schmerz durchfuhr Kira, es war, als hätte man ihr eine glühende Eisenstange in den Hals und bis in die Lenden gestoßen. Jetzt erinnerte sie sich. Und begriff, warum sie sich nach dem damaligen Anruf bei Russanow so unwohl gefühlt hatte, woher ihre diffuse Unruhe gestammt hatte, die Dima an ihr bemerkt hatte. Sie hatte ihm damals gesagt, sie hätte das Gefühl gehabt, etwas falsch gemacht zu haben, und er hatte sie beruhigt, hatte gemeint, daß so etwas normal sei in der für sie ungewohnten Situation.
    Damals hatte sie Russanow sagen müssen, daß er an drei mal dreißig plus zehn denken sollte. Als sie zu sprechen begonnen hatte, war ihr Blick an der mit blauem Filzstift geschriebenen Telefonnummer 214 10 30 hängengeblieben, und mechanisch hatte sie die Ziffern umgedreht. Sie müssen an drei mal zehn plus dreißig denken, hatte sie gesagt. Ihr schien, sie könne jetzt noch ihre Stimme hören, die die falschen Ziffern nannte. Wie war es möglich, daß Russanow die Unterlagen, die sie im Schließfach deponiert hatte, dennoch bekommen hatte? Sie hatte ihm die falsche Nummer gesagt, und dennoch hatte er am Abend desselben Tages bestätigt, daß er die Unterlagen dem Schließfach entnommen hatte.
    Es konnte nur so sein, daß er von Anfang an wußte, wo diese Unterlagen deponiert waren. Er mußte jemanden zum Bahnhof geschickt haben, der sie beobachtet hatte, während sie die Papiere ins Schließfach legte. Sie hätte ihm jede beliebige Zahl nennen können, sogar einen falschen Bahnhof, er hätte das Kuvert sowieso bekommen. Weil er diese Unterlagen brauchte. Und weil er mitnichten auf Dmitrijs Seite war. Er war nicht sein Freund, er war sein Feind. Und Dima vertraute ihm. . .
    Kira verließ rasch die Telefonzelle und ging zur Metro. Sie mußte nach Hause. Sie mußte Dima sehen und ihm alles sagen. Sie mußte ihm sagen, daß er sich in seinem Freund täuschte, daß er ein Verräter war. Alles war sehr viel schlimmer, als sie geglaubt hatten. Ganz offensichtlich hatte man Kira schon damals, vor einer Woche, aufgespürt, man wußte, wo Dmitrij war, und nun wollte man ihm einen Killer auf den Hals hetzen . . .
    Aber das durfte sie Dima nicht sagen. Von der Sache mit dem Killer konnte sie nichts wissen. Nur von Russanow würde sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher