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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein
Autoren: Wilhelm Schmid
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vermischt mit den Elementen und geht in anderer Form wieder daraus hervor: Vorstellung einer Metamorphose, vielleicht einer Art von »Wiedergeburt«. In subjektiver Sicht mag zweifelhaft erscheinen, ob es ein Fortleben in solcher Form gibt, aber wohin sollten die Bestandteile des Selbst, die körperlichen wie die seelischen und geistigen, denn entschwinden? In nichts auflösen können sie sich nicht, jedenfalls erscheint dies nicht plausibel, also ergibt sich die Möglichkeit einer neuerlichen Zusammensetzung und eines Wiederauflebens. So wird in der Tat denkbar, dass »wir« es sind, die selbst in hundert oder tausend Jahren noch leben und dabei das Leben vorfinden, das wir inder Gegenwart selbst präpariert haben: Unter diesem Aspekt wäre jede Gedankenlosigkeit etwa des ökologischen Verhaltens allerdings verhängnisvoll. Nicht alles Leben wäre dann mit dem Tod zu Ende, nur das gelebte in dieser Gestalt. Und selbst dann, wenn ein Fortleben in anderer Gestalt undenkbar erscheint, gehört zum Leben doch die Wirksamkeit; die aber endet nicht mit dem gelebten Leben: Jeder Atemzug jedes Menschen hinterlässt eine Spur. In irgendeiner Weise wirkt jedes Leben nach, auch dort, wo das Nachwirken verborgen bleiben mag: Das Leben eines Menschen wird zum Stern am Firmament der anderen, und von der Ahnung, dass dies so sein wird, wird das Selbst vielleicht begleitet in seinem Lebensvollzug.
    Einen Eindruck von Transzendenz vermittelt letztlich auch das mögliche Gefühl, das ganze Leben hindurch geführt zu werden und nicht etwa nur sich selbst zu führen: Von wem aber, wenn nicht aus einer Dimension heraus, die das Selbst unendlich weit übersteigt, einer Dimension, in der die Toten beheimatet sind, oder vielmehr dasjenige, was »Geist« an ihnen ist? Dieser Dimension im alltäglich gelebten Leben Ort und Zeit zu geben, empfiehlt Gracián in seinem Handorakel : »Die erste Tagereise des schönen Lebens verwende man zur Unterhaltung mit den Toten« (Aphorismus 229). Ein Element der Lebenskunst kann das Leben mit den Toten sein, denen das Selbst Wohnung bietet: Sie bewahren Vergangenes, bereichern ungemein die Gegenwart und bestärken das Gespür für Künftiges. Im Geistigen gibt es keine Einbuße an Verbundenheit mit einem Menschen, der gestorben ist. Der Tod erscheint in dieser Sicht nur als Verschwinden der äußeren Erscheinung, der aktualisierten Gestalt des Geistigen, das in anders aktualisierter Gestalt wieder geboren wird: Zyklus des Lebens im Geistigen, analog zur Metamorphose im Körperlichen. Das Geistige erscheint als das, was im Verlauf des Lebens durch Individuen hindurch spricht, ihnen jedoch nicht wirklich zugehört, sodass es sich auch nicht verliert mit ihrem Tod. Als einer Form des Geistigen ist wohl jedem Gedanken eine andereZeit eigen als dem Menschen, der ihn denkt. Die unendliche Weite des Möglichen, die im Geistigen erfahrbar ist, dessen Unabhängigkeit von Grenzen des Raumes und der Zeit, über die hinweg das Gespräch zu Lebzeiten und darüber hinaus über große Entfernungen und Jahrtausende hinweg möglich ist – zeugt dies nicht davon, dass Menschen in einer Dimension der Transzendenz beheimatet sind, deren Ausdruck das Geistige ist?
    Vielleicht ist vor diesem Hintergrund nun auch die merkwürdige Erfahrung ängstlicher Sorge hoch oben auf dem Riesenrad besser zu verstehen: Die Angst vor der möglichen Auflösung des Selbst vermischt sich mit einer Faszination gerade hierfür. Es handelt sich um die fremdartige Begegnung des Selbst mit seinen eigenen Grenzen, jedoch auch um die eigenartige Wahrnehmung der Anlagen zu ihrer Überschreitung, zur Selbstauflösung am äußersten Punkt des Lebens. Jedes Selbst trägt, jederzeit prekär, schon vom Beginn seines Lebens an, zumindest in physiologischer Hinsicht, diese Anlagen in sich, die mit dem physischen Tod ohne Verzug wirksam werden: Das ist das Andere und Fremde, ja Feindliche, das dem Selbst als solches erscheint und das dennoch in ihm wohnt und unweigerlich ihm zugehört. Daher das beängstigende Gefühl, »sich aufzulösen«, die Vorahnung des lauernden Prozesses, der das Selbst dereinst tatsächlich auflösen wird, wenn auch zugunsten einer Metamorphose, einer Umwandlung in andere Zusammenhänge, eines anderen und weiteren Lebens: Ahnung eines anderen Selbst. Durch das gewöhnlich gelebte Leben hindurch wird ein anderes, »eigentliches«, transzendentes Selbst spürbar, das nicht in derselben Weise verletzlich und hinfällig ist wie das
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