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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein
Autoren: Wilhelm Schmid
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Erfahrung von Lüsten , »oder es tritt gerade das an die Stelle der Lüste, sich nach keinen zu sehnen«, wie Seneca im 12. seiner Briefe an Lucilius meint. In spezifischen Lüstenliegt das Potenzial des Alters und auch ein Grund dafür, es »anzunehmen und zu lieben«, es zu umarmen und zu genießen, denn, so Seneca, »es ist voller Freude, wenn man es zu nützen versteht«. Es ist vor allem die Lust des Gesprächs und die damit verbundene geistige Berührung, die sich im Alter noch intensiviert, da die Zeit dafür nun zur Verfügung steht und mannigfache Erfahrungen und Reflexionen auszutauschen sind. Die Lust der Erinnerung , die eine begrenzte Rolle spielte, solange der Blick des Selbst »nach vorne« gerichtet war, gewinnt eine unbegrenzte Bedeutung, sobald der Blick sich umkehrt; und vielleicht ist das Leben jetzt sogar ganz der Rückschau gewidmet: Im milden Abendlicht, in dem vieles anders aussieht als zuvor, wird eine Revision des Selbst und seiner Existenz möglich. Selbst die melancholische Erinnerung kann nicht nur schmerzlich und bitter, sondern auch lustvoll und süß sein. Pflegen lässt sich die Lust der Muße , die Zeit des bloßen Seins, gewidmet der Gedankenlosigkeit oder dem philosophischen Nachdenken über das Leben, das womöglich das ganze Leben über zurückstehen musste. Neben die Aktivität tritt endlich die in der Kultur der Moderne nicht geliebte und nicht legitimierte Passivität : Wenigstens im Alter kann das Menschenrecht, passiv zu bleiben, noch in Anspruch genommen werden; ohnehin drängt das Leben dazu, denn vieles ist hinzunehmen, was nicht mehr geändert werden kann, und die Haltung der »Demut« liegt näher als die Haltung des Aufbegehrens. Die Lebenskunst beim Älterwerden verfügt über beide Optionen, um das Leben auf erfüllte Weise zu leben: noch aktiv zu sein, sich weiterzubilden, sich zu engagieren und Geselligkeit zu pflegen – oder ganz im Gegenteil passiv zu sein, sich zurückzuziehen, nur für sich und die Familie da zu sein und das gesellschaftliche Leben mit dem Blick von außen zu betrachten, mit der gelassenen Distanz, die in der alltäglichen Aufgeregtheit allzu oft fehlt.
    Von besonderer Bedeutung beim Älterwerden ist die Lust der Berührung , wenn andere Sinne wie Sehen und Hören vielleichtschwächer werden, die Basiskommunikation über den Tastsinn jedoch ebenso gut möglich ist wie einst am Lebensanfang. Ein rasender Puls kann beruhigt, ein steigender Blutdruck gesenkt werden von einer einzigen Hand, die zu spüren ist, von einem beiläufigen, leichten Berührtwerden am Arm, das unmittelbar und nachhaltig Vertrauen erweckt. Das Drama aber ist, dass ausgerechnet beim Älterwerden, wenn das Bedürfnis nach Berührung wächst, die Bereitschaft anderer dazu deutlich sinkt. Die Haut zieht nicht mehr von selbst, wie bei einem Baby, die körperliche Berührung auf sich. Es ist, als würde ein Schild Noli me tangere , »Rühr mich nicht an« über dem Alter zu sehen sein, aber nicht die Älteren haben es ausgehängt, sondern eine Jugendlichkeit propagierende Kultur, die aus den Älteren »Unberührbare« macht; denn infiziert zu werden vom Älterwerden, das wäre der Tod. Je weniger Berührung Menschen im Alter jedoch erfahren, desto fremder werden sie sich selbst und anderen und schließlich der Welt; sie fühlen sich ausgeschlossen und »losgelöst«. Wenn Berührung so große Bedeutung hat, wenn es zutrifft, dass über den Körper auch die Seele zu berühren ist, dann wäre Sorge dafür zu tragen, im Alter noch die »Grundversorgung« sicherzustellen: Zunächst als physische Berührung, vermittelt durch eine Umarmung oder die Hand, die in der Hand eines anderen liegt, durch eine regelmäßige Massage und Körpertherapie, durch die Berührung des Wassers beim Baden und Schwimmen, oder wenigstens durch die Möglichkeit des Betastens von Materialien, Stoffen, Gegenständen. Von ebensolcher Bedeutung fürs Älterwerden ist die psychische Berührung, wie sie durch Beziehungen der Liebe und Freundschaft vermittelt wird und wechselseitige Zuwendung und Zuneigung gewährt; sowie die geistige Berührung, vermittelt durch eine Lektüre und ein Gespräch, in deren Verlauf das Selbst von Gedanken und Ideen anderer berührt wird und diese selbst wiederum berührt. Möglicherweise lernt das Selbst jetzt erst die metaphysische Berührung kennen, die den Bezug zu einer Dimension der Transzendenz herstellt: Aufgrundder wachsenden Nähe zum Tod, und wohl auch aufgrund der
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