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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein
Autoren: Wilhelm Schmid
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zunächst den Anschein hatte. Das Selbst nimmt wahr, dass im zweiten Drittel des Lebens , sozusagen am späten Vormittag, über Mittag und am Nachmittag einige der Möglichkeiten, etwa eine Familie zu gründen und berufliche Ziele zu erreichen, definitiv zu realisieren sind, sofern sie überhaupt jemals verwirklicht werden sollen. Kennzeichnend für diese Phase ist das reale Können , das Können der Wirklichkeit. Es ist die Zeit der Festlegungen und Umsetzungen im Umgang mit sich, mit anderen und der Welt. Weiterhin lässt sich experimentieren, jedoch nicht mehr beliebig lange. Aufgrund wachsender Erfahrung ist einige Gekonntheit zu erreichen, die des Gespürs bedarf. In der Mitte der zweiten Phase, inmitten der endlosen Weite des Nachmittags, überschreitet das Selbst die Hälfte desLebens , gemessen daran, dass eine Lebensdauer von achtzig oder neunzig Jahren nicht gänzlich unwahrscheinlich ist. Unabweisbar stellt sich damit nun aber die Einsicht ein, dass sich die Möglichkeiten des Lebens allmählich zu verschließen beginnen. Ein radikaler Wechsel der Perspektive aufs Leben vollzieht sich: Ging bis dahin der Blick meist nach vorne (»Wie wird mein Leben sein? Was möchte ich tun und was kann ich erreichen?«), so richtet er sich jetzt immer häufiger zurück (»Wie verlief mein Leben? Was habe ich bisher gemacht und erreicht?«). Das Selbst erinnert sich in wachsendem Maße an das, was war, an verpasste Möglichkeiten und schmerzliche Verluste, auch an herrliche Erfahrungen, die nun heller glänzen als einst. Die Perspektivumkehr bringt ein anderes Leben ins Spiel, nicht mehr nur ein prospektives , sondern auch ein retrospektives , befördert vom wachsenden Bewusstsein der Begrenztheit des Lebens. Die Neuorientierung im Geistigen antwortet auf veränderte Erfahrungen im Körperlichen und Seelischen: Über Kräfte kann nicht mehr beliebig und jederzeit verfügt werden, es wächst die Anfälligkeit für Schmerzen und Krankheiten. Die Gesundheit, die lange im Leben als Selbstverständlichkeit erschien, wird zu einer Art von Arbeit. Die einst so heftigen und wechselhaften Gefühlsaufwallungen mäßigen sich und werden an sich selbst und anderen mit wachsender Distanz wahrgenommen. Freundschaften werden bewusster gepflegt. Selbstfreundschaft heißt nun, sich zu befreunden auch mit den Phänomenen des Alterungsprozesses.
    Etwa ab dem 60. Lebensjahr markiert das dritte Drittel des Lebens den »Lebensabend«, wie dies einst so einfach hieß. Die Möglichkeiten, die noch bleiben, werden entschiedener selektiert, ihre Verwirklichung konzentrierter betrieben, realisiert aufgrund großer Erfahrung und sicheren Gespürs mit dem exzellenten Können der Gekonntheit. Ist im Alter nicht sogar die Meisterschaft zu erreichen und das Werk zu vollenden, zu dem die Strategien der Lebenskunst zuverlässig führen? Liegt darin nicht die Macht des Alters? Aber zum Meister wird nur, wer »ausgelernt«hat; in der Lebenskunst kann es keine wirkliche Meisterschaft geben, denn das Leben bleibt eine anhaltende Abfolge von Herausforderungen bis zuletzt. Immer neuen Erfahrungen und Veränderungen ist Rechnung zu tragen, nie kann das Lebenwissen zu einem definitiven Wissen werden. So bleibt das Selbst immer nur ein Lehrling in der Lebenskunst, und dies nicht erst in moderner Zeit: »Leben muss man das ganze Leben lang lernen« ( vivere tota vita discendum est ), so Seneca schon in seinem Buch Von der Kürze des Lebens . Jetzt ist noch zu lernen, langsamer zu werden, die Kräfte ökonomischer einzuteilen, mit sich allein zu sein, das ganze Leben zu durchdenken und den Tod vor Augen zu haben. Und es ist nicht nur die Zeit exzellenten Könnens, sondern auch der Erosion allen Könnens: Die Gekonntheit schwindet, die Möglichkeiten reduzieren sich, bis letztlich nur die eine übrig bleibt, die die bloße Wirklichkeit dieses Lebens ist, bevor auch sie verloren geht.
    Aber vielleicht ist die Befassung mit dem Älterwerden nur eine historische Reminiszenz ans Alter im Moment seines Verschwindens. Den Eindruck, dass das Altern eine zu besiegende Krankheit sei, vermitteln jedenfalls »Anti-Aging-Ratgeber«, die gegen den Alterungsprozess vorzugehen versprechen und Strategien, ironiefrei, für ein »erfolgreiches Altern« entwerfen. »Zeitlos schön« zu sein ist das Ziel, mag sich der verbissene Kampf gegen das Älterwerden in den Gesichtszügen auch weniger schön abzeichnen. Statt alle Kräfte im Kampf gegen das Altern zu verausgaben, ließe sich das
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