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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein
Autoren: Wilhelm Schmid
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Bedingungen und Möglichkeiten einer bestimmten Zeit und eines Kulturraumes gebunden ist. Die Lebenskunst, wie sie hier entfaltet wird, versucht (auch wenn sie einige Inspirationen aus der Tradition aufnimmt) auf die Herausforderungen der Zeit der Moderne zu antworten. Was aber ist Moderne , woher kommt sie, wohin geht sie? Sie erscheint als eine Denkweise, die die verschiedensten Erscheinungsweisen des Lebens durchzieht, nicht als Produkt eines Zufalls, sondern einer absichtsvollen Konzeption, modernen Menschen oft kaum mehr bewusst. Dynamisch bewegt wird die Moderne, wie sie von den Aufklärern, darunter vielen Philosophen, im 17. und 18. Jahrhundert konzipiert worden ist, um elenden Verhältnissen zu entkommen, vom Begriff der Freiheit . Freiheit wird dabei von vornherein und bis ins 21. Jahrhundert hinein im Wesentlichen als »Befreiung« verstanden und als Freiwerden von Gebundenheit erfahren. Nichts daran ist zurückzunehmen, die Tragik der Freiheit als Befreiung besteht jedoch darin, ein Individuum freizusetzen, das in seiner Bindungs- und Beziehungslosigkeit kaum zu leben vermag. Wie ein erratischer Block steht es in der Landschaft der Moderne, versteht sich selbst nicht mehr und weiß mit sich nicht umzugehen.
    Die Freiheit als Befreiung macht eine eigene Lebensführung erst zur Notwendigkeit. Denn das ist die Situation des modernen Individuums: Frei zu sein von religiöser Bindung , denn es ist aufkeine Religion mehr festgelegt, auf kein Jenseits mehr vertröstet – mit der Folge, auf kleine und große Lebens- und Sinnfragen nun selbst Antworten finden zu müssen. Frei zu sein von politischer Bindung , denn aufgrund der Befreiung von jedweder Bevormundung vermag es eigene Würde und Rechte gegen Fremdbestimmung geltend zu machen – mit der Konsequenz, dass die individuelle wie gesellschaftliche Selbstgesetzgebung (»Autonomie« im Wortsinne) zur ebenso mühsamen wie unumgänglichen Aufgabe wird. Frei zu sein von ökologischer Bindung , denn aufgrund technischer Befreiung von Vorgaben der Natur sind neue Lebensmöglichkeiten entstanden – mit der schmerzlichen Erfahrung, dabei die eigenen Lebensgrundlagen verletzen zu können und aus Eigeninteresse (sofern da noch eines ist, das so weit reicht) eine ökologische Haltung neu begründen zu müssen. Frei zu sein von ökonomischer Bindung , die zunächst noch darin bestand, die freigesetzte wirtschaftliche Tätigkeit einiger auf die Hebung des Wohlstands aller zu verpflichten – die Befreiung davon sorgt für soziale und ökologische Kosten, deren Bewältigung größte Mühe macht. Frei zu sein schließlich von sozialer Bindung : Das vor allem ist der Befreiungsprozess, der das moderne Individuum erst hervorgetrieben hat, losgelöst aus seinem Eingebundensein in Gemeinschaften, befreit (»emanzipiert«) von erzwungenen Rollenverteilungen, sexuell befreit von überkommenen Moralvorstellungen, befreit überhaupt von Moral und Werten, die als »überholt« angesehen werden. Anstelle von Gemeinschaft entsteht die Gesellschaft als Zusammenkunft freier Individuen. Alle Formen sozialer Gemeinschaft werden fragmentiert: Die Großfamilie schrumpft zur Kleinfamilie, deren Bruchstücke führen zur Patchworkfamilie und zum Singledasein, bis schließlich nicht nur der »Individualismus«, sondern auch die Selbsteliminierung des Individuums möglich ist und wirklich wird: die letzte »Befreiung«.
    Moderne ist eine Auflösung von Zusammenhängen und somit von Sinn. Die Befreiung von inneren und äußeren Bindungenund Beziehungen führt zur Erfahrung des »Nihilismus«. Den zahllosen Diskursen, die bekennen, »auf der Suche« zu sein, ist Ratlosigkeit von den Lippen zu lesen. Aber die Bedeutsamkeit von Zusammenhängen ist in ihrer Abwesenheit am besten zu erkennen. Die Moderne im Übergang ist daher eine philosophische Zeit, eine Zeit der neuerlichen Frage nach dem Wesentlichen, das zu anderer Zeit im Selbstverständlichen verborgen lag. Da sich im Nichts nicht leben lässt, beginnt die Arbeit an einer Wiederherstellung von Zusammenhängen, wenn auch anfänglich noch naiv und unbeholfen. Es zeichnet sich eine Zwischenzeit ab, die, der auffälligen Häufung einer unscheinbaren Vorsilbe folgend, die Re-Zeit genannt werden kann: Retrospektiven, »Retros«, allerorten. Was zunächst Rezyklierung ( Recycling ) im ökologischen Kontext war, auch Renaturierung, etwa von Flüssen, Reduktion, etwa von Schadstoffen, oder Rekonstruktion, etwa von historischen Gebäuden, Renaissance
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