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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein
Autoren: Wilhelm Schmid
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sind, und alle Versuche zur Klärung der im Lebensvollzug auftauchenden Fragen und Probleme können die Totalität des Lebens letztlich nicht einholen. So unverzichtbar der Prozess der Klärung und Aufklärung ist, so unerreichbar erscheint eine letzte Wahrheit, und dies keineswegs nur, weil das Leben dafür zu kurz ist, sondern auch, weil sie nicht wirklich wünschbar sein kann: Was wäre ein Leben, das gänzlich transparent erschiene? Einige Spannung bezieht es daraus, immer wieder anders auszufallen als vom Denken gedacht.
    Bleibt noch die Frage, ob nicht eine Verkünstlichung des Selbst droht, wenn auf allzu technische Weise von ihm die Rede ist. Von »Techniken« im Umgang mit sich selbst zu sprechen, lässt sich aber nicht vermeiden, da sie es sind, die auf den Verlust des »natürlich« erscheinenden Selbstbezugs antworten können. Zur Kunst wird die Selbstbeziehung erst dann, wenn sie nichts Künstliches mehr an sich hat, sondern zur »zweiten Natur« geworden ist und zu einer neuen Fülle führt, die sich entfalten kann, da das Selbst sich mit sich selbst befreundet. Denn wie mit einem wahren Freund kann der Umgang mit sich selbst gestaltet werden: freimütig und offen, reichhaltig und vielfältig, nicht langweilig und zuweilen rätselhaft; zuweilen geht es darum, sich zu schonen und zu pflegen, denn ohne Erholung wird keine Mühe zu bewältigen sein; zuweilen sich zu mühen und sich herauszufordern, denn im Genuss allein wird das Glück nicht zu finden sein. Immer wieder versucht das Selbst, Distanz zu sich zu gewinnen, um wie von außen auf sich zu blicken, nicht nur in sich zu ruhen, sondern auch aus sich herauszugehen, asketisch und ekstatisch, liebevoll und ernst, leidenschaftlich und selbstironisch, ängstlich und mutig, nachsichtig und unnachsichtig, emotional und reflektiert, überlegt und manchmal unüberlegt, ohne Scheu voreiner Dummheit, denn Klugheit entsteht auf diese Weise.
    Der Inspiration auf dem Weg dazu dient dieses Buch, das von der Begründung und Gestaltung einer Beziehung zu sich handelt. Den wirklichen Umgang mit sich festzulegen, liegt dann in der Hand jedes Einzelnen. Das Unbehagen an der Selbstbeziehung aber hat seinen Grund nicht zuletzt in einer Konfrontation mit der Abgründigkeit des Selbst , die im Umgang mit sich früher oder später fühlbar und als beängstigend erfahrbar wird; ja, mit der Erfahrung der Angst beginnt der Umgang mit sich selbst überhaupt. Den entscheidenden Anstoß zur Klärung der Beziehung zu sich und zur Begründung von Lebenskunst gibt, wenn sonst nichts, dieses Phänomen.

Von Ängsten und von Künsten.
Über den Anfang der Lebenskunst
Am Anfang ist die Angst
    Reines Vergnügen hoch oben auf dem Riesenrad, gemeinsam mit anderen in einer Gondel, schwebend über aller Welt, ein wenig schaukelnd im Wind. Das Rad steht still, unten steigen Leute ein und aus. Da packt mich plötzlich, ohne Vorwarnung, ohne jeden Grund, die nackte Angst. Binnen eines Moments schlägt die übermütige Freude um in die entsetzliche Erkenntnis, dass ich mich hinunterstürzen werde, dass ich zerschmettert da unten liegen werde, dass nichts mich davon abhalten wird. »Mich«? Welcher Dämon hat mich gepackt? Was ist es, das mitten in mir Besitz von mir ergreift? Ich weiß es nicht, ich kenne »es« nicht, bin ihm noch nie begegnet, spüre nur mit grausamer Gewissheit, dass es übermächtig ist. Todesangst durchzuckt mich, lässt meinen Puls rasen, treibt kalten Schweiß auf meine Stirn; meine Hände versuchen, sich in die Bank zu krallen, auf der ich sitze, vergebens. Selbst wenn es gelänge: »Es« würde sie lösen, »ich« würde mich hinunterstürzen, und den Zurückbleibenden würde es für immer ein Rätsel bleiben, warum er , warum dort , und warum überhaupt…
    Warum kein Wort zu irgend jemandem, kein Hilfeschrei? Weil das Leben sich nur noch von Sekundenbruchteil zu Sekundenbruchteil weiter quälen kann; weil ein Quäntchen Kraft übrig sein müsste, um sich auch nur zu rühren – genau dies aber würde der Augenblick der Unaufmerksamkeit sein, auf den der Dämon lauert, ein tödlicher Moment, in dem das Diabolische in mir obsiegt hätte. Alle Lebenskunst reduziert sich jetzt darauf, den nächsten Moment noch zu überleben. Auf nichts sonst konzentriere ich mich, nur für diese Winzigkeit reicht noch die Kraft. Die erschrocken prüfenden Augen der anderen helfen mir nicht beim Kampf mit diesem Anderen in mir, das gleichfalls dasSelbst für sich beansprucht. Ich selbst
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