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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein
Autoren: Wilhelm Schmid
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das untergründige Sein, das gegenüber allem vordergründigen Schein faszinierend und erschütternd in seiner Nacktheit ist. Alles wird zu nichts in der Angst: das Selbst, seine Beziehungen zu anderen, die Welt als Ganzes – aber gerade dadurch tritt hervor, was unter Sinn verstanden werden kann. Die Angst lehrt, was Leben ist und was wesentlich ist – dadurch, dass es bitter entbehrt wird. Es ist merkwürdig, dass ausgerechnet die Erfahrung von Tiefen und Untiefen das Selbst zu befähigen scheint, zu anderer Zeit die Höhen des Lebens zu erklimmen. Aber nur wer »tief unten« ist, sammelt die Kräfte für den Weg »nach oben«. Am Anfang von so vielem ist die Angst.
    Während sie in der antiken Philosophie noch als Charakteristikum eines »abhängigen Gemüts« (Seneca im fünften seiner Briefe an Lucilius über Ethik ) verworfen worden war, zeigten sich Philosophen in moderner Zeit bereit, ihr Sinn zuzugestehen und sie anthropologisch , als Grundbedingung des Menschseins zu verstehen. Sören Kierkegaard ( Der Begriff Angst , 1844) beobachtete, dass eine neue Form von Angst in der Moderne entsteht, da alle sozialen Bindungen und metaphysischen Bezüge sich auflösen. Die Erfahrung der Angst sei der »Schwindel der Freiheit« im entstehenden Nichts. Und doch gewinne der Mensch gerade in dieser Erfahrung ein nachhaltiges Verhältnis zu seiner Freiheit, sich selbst bestimmen zu können; daher sei die Angst die bestmöglicheLehrerin des Lebens. Martin Heidegger ( Sein und Zeit , 1927) hielt sie aus ähnlichen Gründen für unverzichtbar, denn dadurch, dass der Einzelne sich auf sich selbst zurückgeworfen erfahre, »solus ipse«, erschließe sich ihm erst, was Existenz sei. Das mögliche Entgleiten des Seins mache das Sein als solches erst bewusst, sodass die Angst eine »ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins« sei. Und schließlich affirmierte auch Karl Jaspers ( Philosophie , Band II: Existenzerhellung , 1932) die Angst als Grunderfahrung, die den Menschen in seinem Kern anspricht: Die Erfahrung der großen Verletzlichkeit der Existenz führe dazu, dass eine vordergründige Geborgenheit zusammenbricht und die Möglichkeit des eigentlichen Selbstseinkönnens zu entdecken ist. Auch Jaspers geht vom spezifisch Modernen der Angst aus, das aus der Auflösung des Halts des Einzelnen in sozialen und traditionellen Bindungen resultiert: »Eine so noch nie gewesene Lebensangst ist der unheimliche Begleiter des modernen Menschen« ( Die geistige Situation der Zeit , 1931). Das Gefühl des Verlorenseins, »wie ein verlorener Punkt im leeren Raum zu versinken«, kann ihm zufolge sogar eine Flucht in Krankheit bewirken, um wenigstens noch negativen Halt zu erfahren. Dermaßen kann das Ausmaß der Angst anwachsen, dass ihre Lebbarkeit fraglich wird. Was kann da noch Lebenskunst sein?
Mit der Angst beginnt die Lebenskunst
    Die Erfahrung der Angst ist unverfügbar, verfügbar ist lediglich die Haltung, die zu ihr eingenommen wird. Statt die Angst abzuweisen, kann die Haltung darin bestehen, sie aufzunehmen, um sich auf das Leben zu besinnen und es neu zu orientieren. Wird diese Haltung zugrunde gelegt, beginnt Lebenskunst nicht erst auf der intellektuellen Ebene des Bewusstseins, sondern auf der existenziellen Ebene der Angst, wie sie jederzeit von jedem Menschen erfahren werden kann. Eine zwingende Notwendigkeit, den Stachel der Angst aufzunehmen, gibt es nicht; grundsätzlichauch keine Möglichkeit für andere, ein Selbst darauf zu verpflichten. Jedes einzelne Selbst hat selbst seine Wahl zu treffen und kann lediglich in der Vorbereitung hierauf die Hermeneutik der Angst zuhilfe nehmen, um über ihre Zusammenhänge und mögliche Bedeutsamkeit, ihren »Sinn« nachzudenken: womöglich Element der Polarität des Lebens und Moment seiner Orientierung zu sein, und dies gerade dadurch, dass sie das Leben in Frage stellt; im Selbst die Sensibilität entstehen zu lassen, die die Voraussetzung für das Entstehen von Klugheit ist; es herauszufordern, von der Gleichgültigkeit gegenüber seinem Leben abzulassen und die Sorge für sich wahrzunehmen.
    Auf der Basis der Hermeneutik kann das Selbst seine Haltung zur Angst festlegen: Soll ihr Rechnung getragen werden? Soll sie eliminiert (besiegt) oder einfach nur akzeptiert (hingenommen) werden? Soll sie utilisiert (genutzt) werden, etwa für die Motivation, ein bestimmtes Ziel zu erreichen? Oder soll sie transformiert (umgewandelt) werden, etwa in eine »objektbezogene« Furcht, um ihr
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