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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein
Autoren: Wilhelm Schmid
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selbst ausspricht. Die Äußerung sorgt für eine Distanzierung, somit für eine »Objektivierung«. Mit jeder Formulierung gewinnt die Angst im Gespräch Form und somit Fassbarkeit, und die Anwesenheit des anderen gibt dem ängstlichen Selbst Halt. Im Gespräch lässt sich den persönlichen Gründen für eine Angst nachspüren, ebenso ihrer möglichen Bedeutung für das eigene Leben, für menschliches Leben überhaupt. Gesprächsweise lässt sich das Phänomen in den Horizont der Zeit einbetten, um den unmittelbar Betroffenen davon zu entlasten: Gerade der moderne Ausschluss der Angst führt vielleicht dazu, dass sie im einzelnen Selbst, das sie stellvertretend für andere zu ertragen hat, exzessiv und scheinbar grundlos wiederkehrt.
    Was die Angst zeitweilig heilen kann, ist der Genuss der Lüste der fünf Sinne, der Sinnlichkeit des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens, insbesondere aber des Tastens. Der kunstvolle Umgang mit Angst bedarf daher einer Kunst der Berührung , die viele Worte erspart; vor allem der zärtlichen Berührung, die eine Angst vergessen macht. »Kann ich näher bei Dir liegen, dann habe ich nicht mehr so viel Angst«, hören Eltern von ihren Kindern, und das Bedürfnis nach solcher Nähe verliert sich offenkundig auch bei Erwachsenen nicht. Berührung besänftigt Angst, und dies gilt für die körperliche ebenso wie für die seelische, geistige und metaphysische Berührung; der Grund dafür dürfte auf allen Ebenen derselbe sein: Jede Berührung vermittelt eine Erfahrung von »Transzendenz«, einer Überschreitung der engen Grenzen des Ich. Das Selbst fühlt sich nicht mehr metaphysisch einsam, und dieses Gefühl entspricht offenbar einer Wirklichkeit, denn mit der Berührung eines anderen wächst das Selbst über sich hinaus. Daher gilt es, die Bindungen und Beziehungen zu suchen und zu pflegen, die Berührung möglich machen: Bindungen der Liebe und der Freundschaft, der geistigen Beziehung und vielleicht des Bezugs zu einer Dimension der Transzendenz im weiteren Sinne, in der die Angst Platz findet und nicht ein für alle Mal »besiegt« werden muss.
    Zur Mäßigung der Angst trägt ferner die Gewöhnung bei: Gewöhnung an die Angst, an den Anlass oder den Ort der Angst; Gewöhnung auch im Sinne einer Wiederherstellung der Oberfläche des gewohnten und gewöhnlichen Lebens, dieser relativen Festigkeit und Zuverlässigkeit, auf deren Grund und Boden sich das Leben in einem begrenzten Raum für überschaubare Zeit wieder einrichten lässt. Kinder sind natürliche Meister hierin, von ihnen lässt sich dies lernen, um es bewusst zur Anwendung zu bringen. Das Gewöhnliche und Normale wird hergestellt durch die Pflege der Gewohnheiten , deren Bedeutung umso größer wird, je geringer sie geschätzt werden. Gewohnheit ist konstruierte Stabilität, die selbst eine Instabilität zu leben erlaubt. Zwarwächst mit jeder Stabilität die Gefahr der Leblosigkeit, aber mit jeder Instabilität auch die der Unlebbarkeit. Gewohnheiten sind es letztlich, die einer grassierenden Sinnlosigkeit Einhalt gebieten können, denn in aller Subjektivität sorgen sie für die Wiederherstellung von Zusammenhängen des Lebens und gründen so selbst Sinn, jedenfalls den alltäglichen Sinn, in dessen Rahmen sich das Leben wohnlich einrichten lässt, und sei es im Garten am Rande des Abgrunds, um aus dem kultivierten Raum heraus besser über die Brüchigkeit allen Sinns nachdenken zu können.
    Keine Angst davor, unwichtigen Dingen vorsätzlich Wichtigkeit beizumessen, um sich daran festzuhalten, vive la bagatelle ! Wichtig ist das vielleicht oberflächliche, triviale und banale Schöne eines Films, eines Musikstücks, eines Cafébesuchs, eines Plauderns. Es liegt viel Weisheit darin, an einer Oberfläche festzuhalten, vorsätzlich oberflächlich zu sein und sogar eine Kunst der Oberflächlichkeit zu pflegen, wenngleich im Sinne der bewussten Lebensführung nur unter der Voraussetzung, die Oberfläche als solche auch wahrzunehmen. Eine Kultivierung der Oberfläche propagierte bereits Nietzsche in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft von 1887, aus eigener abgründiger Erfahrung und in antiker Tradition: »Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben : dazu tut not, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben. Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe !«
Schwach
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