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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein
Autoren: Wilhelm Schmid
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begrenzten Lebenshorizont wieder, die Ressourcen eines überlieferten, gemeinsamen Lebenwissens bleiben ihm verschlossen und es beginnt danach zu fragen, wo Lebenshilfe zu bekommen sei. Die Situation wird verschärft von Ängsten und der Empfindung von Schwäche angesichts der Komplexität moderner Gesellschaften und der stets neuen Herausforderungen durch Wissenschaft und Technik, auf die nicht von vornherein schon Antworten bereitstehen.
    Eine ganze Skala von Lebensfragen bricht auf, Einzelfragen und grundlegende Fragen, bürokratische, gestalterische, therapeutische und existenzielle Fragen. Für die bürokratische Seite der Lebensbewältigung stehen spezifische Kompetenzen zur Verfügung, mit deren Hilfe zuweilen banale, aber im situativen Lebensvollzug einer modernen Gesellschaft drängende Probleme wie Finanz-, Steuer-, Rechtsfragen zu bewältigen sind. Auch für die gestalterische Seite der Lebensbewältigung lässt sich je besonderer Sachverstand konsultieren, wenn es um berufliche Möglichkeiten, Gesundheitsvorsorge, Ernährungsfragen, Fragen des Verbraucherschutzes, Reiseplanung etc. geht. Einzelkompetenzen sind verfügbar zur therapeutischen Seite, um eine Krankheit im Organischen oder Psychischen zu behandeln, eine »Störung« in einer Kommunikation oder Beziehung zu beheben und nach dem richtigen Umgang mit Gefühlen und Leidenschaften, mit Lüsten und Ängsten zu fragen. Was aber ist mit der existenziellen Seite, bei der es, in Überschneidung mit therapeutischen Fragen, die gestalterischen tangierend, die bürokratischen Fragen weit übergreifend, um die eigentlichen Lebensfragen geht: Ist dieses Leben, das individuelle, das gesellschaftliche, auf dem richtigen Weg? Was ist Leben für mich? Was halte ich fürwichtig: Freundschaft, Liebschaft, ein Leben in Zurückgezogenheit oder in der Öffentlichkeit? Wie kann ich mein Leben führen? Welchen Sinn haben Lüste, Ängste, Schmerzen, Krankheit und Leid? Welches Verhältnis habe ich zum Tod? Woran kann dieses Leben orientiert werden? Was ist schön und bejahenswert für mich, was sind die Werte, denen ich in meinem Leben Bedeutung geben will? Was ist in meinen Augen Glück, was der Sinn des Lebens? Was ist das überhaupt, »Glück«, »Sinn«?
    Um Antworten zu finden, suchen Menschen in wachsendem Maße nach einem Raum, in dem die Erörterung dieser Fragen möglich ist. Einen solchen Raum des Innehaltens und Nachdenkens bieten die Theologie, auch die Therapie im weiteren Sinne – und die Philosophie. Darin besteht bereits ein Teil ihrer Lebenshilfe: den »logischen«, geistigen Raum zur Verfügung zu stellen, in dem die eigenständige Urteilskraft zu gewinnen ist, mit deren Hilfe das Leben neu orientiert werden kann. Dass dieser Raum der umfassenden Besinnung und Selbstbesinnung offen steht, dass in ihm abseits aller Aktivität die Passivität der Nachdenklichkeit gelebt werden kann, ist zweifellos ein Grund für die wachsende Bedeutung der Philosophie in orientierungsloser Zeit, immer wieder in der Geschichte seit der Antike. Die Lebenshilfe der Philosophie ist keine Form von Therapie. Wer Lebensfragen hat, ist nicht therapiebedürftig, jedenfalls nicht im engeren, modernen Sinne des Wortes, das einen pathologischen oder dysfunktionalen Hintergrund voraussetzt, allenfalls im weiteren, antiken Sinne der griechischen therapeía , die eine Pflege und Sorge meint, wie dies auch in mancher Psychotherapie wieder entdeckt wird. Erst recht ist die Sorge um eine »Heilung der Seele« ( psychēs iatreía ) nicht zwangsläufig ein Fall für die Psychiatrie.
    Die Philosophie »behandelt« nicht, sie trägt vielmehr zu einer Klärung von Lebensfragen bei. Die Klärung geschieht mithilfe der Philosophie, nicht etwa durch sie. Der Klärungsprozess zielt nicht darauf, definitive Klarheit zu erreichen, sondern diejenigeoperative Klarheit, die das Leben wieder ermöglicht. Das philosophische Angebot zur Klärung, seit Sokrates ein Angebot zum Gespräch, besteht in einer Art von Geburtshilfe, maieutikē , um das je eigene Denken hervorzubringen. Es ermöglicht den Gesprächspartnern, jeweils für sich selbst die Orientierung zu gewinnen, die im Dickicht des alltäglich gelebten Lebens verloren gegangen oder noch nie gefunden worden ist. Der Philosoph kann der Gesprächspartner in diesem Lebensgespräch sein, unabhängig davon, ob das Gespräch real (gesprochen) oder imaginär (gedacht) geschieht. Die Stärke der Philosophie liegt dabei in der Tat eher in ihrer Schwäche:
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