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Die Blendende Klinge

Die Blendende Klinge

Titel: Die Blendende Klinge
Autoren: Brent Weeks
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    Gavin Guile lag in einem schmalen Gleiter, der mitten im Meer trieb, auf dem Rücken. Es war ein winziges, flaches Boot. Früher einmal hätte er so auf dem Rücken liegend nahezu geglaubt, eins mit dem Meer zu sein. Jetzt war die Himmelskuppel über ihm wie ein Deckel und er ein Krebs im Kochkessel, in dem es immer heißer wurde.
    Zwei Stunden vor Mittag sollte das Wasser hier, vor der Südküste der Azurblauen See, von einem überwältigend intensiven Blaugrün sein. Und der wolkenlose Himmel über ihm, jetzt, da sich der Morgennebel in der Sonne aufgelöst hatte, von einem friedvollen, leuchtenden Saphirblau.
    Aber er konnte diese Farben nicht sehen. Seit er vor vier Tagen die Schlacht von Garriston verloren hatte, sah er, wo Blau war, immer nur Grau. Und wenn er sich nicht konzentrierte, sah er nicht einmal das. Jetzt, da ihm sein Blau genommen war, wirkte das Meer wie eine dünne graugrüne Brühe.
    Seine Flotte wartete. Schwer, sich zu entspannen, wenn Tausende von Menschen auf dich, und nur auf dich, warten – aber er brauchte jetzt einfach ein gewisses Maß an Ruhe.
    Er blickte zum Himmel empor, breitete die Arme aus und berührte mit den Fingerspitzen die Wellen.
    Lucidonius, warst du auch einmal hier? Hat es dich überhaupt wirklich gegeben? Ist dir das Gleiche widerfahren?
    Etwas zischte durchs Wasser, ein Geräusch wie von einem Boot, das die Wellen durchschnitt.
    Gavin richtete sich halb auf und erhob sich dann ganz.
    Fünfzig Schritt hinter ihm verschwand etwas unter den Wellen. Etwas, das groß genug war, Wellen aufzuwerfen. Es könnte ein Wal gewesen sein.
    Nur dass Wale im Allgemeinen zum Atmen an die Oberfläche kamen. Und es hing keine Gischtfontäne in der Luft, kein dampfender Strahl ausgestoßener Atemluft. Außerdem musste eine solche Meereskreatur wahrhaft gewaltig sein, wenn Gavin sie aus einer Entfernung von fünfzig Schritt durch das Wasser zischen hören konnte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals.
    Er begann Licht einzusaugen, um sich einen Antrieb für sein Boot zu wandeln – und erstarrte. Direkt unter seinem winzigen Gleiter bewegte sich etwas durchs Wasser. Es war, als sehe man von einer Kutsche aus die Landschaft vorbeifliegen, aber Gavin bewegte sich nicht. Der heranbrausende Körper war riesig, um ein Vielfaches breiter als sein Boot, und er wellte und wogte immer näher an die Oberfläche, immer näher an sein eigenes kleines Boot. Ein Meeresdämon.
    Und er glühte. Ein friedliches, warmes Leuchten, ganz wie das der Sonne an diesem kühlen Morgen.
    Gavin hatte noch nie von etwas Derartigem gehört. Meeresdämonen waren Ungeheuer, die reinste, wahnsinnigste Form von wilder Raserei, die der Menschheit bekannt war. Sie brannten in leuchtendem Rot, kochten die Meere und hinterließen Feuer in ihrem Kielwasser. Keine Fleischfresser, so vermuteten es zumindest die alten Bücher, aber von einem verbissenen Revierbewusstsein – jeder Eindringling in ihre Gewässer musste zermalmt werden. Eindringlinge wie Schiffe zum Beispiel.
    Dieses Licht war nicht das Licht eines solchen Zorns. In seinem friedlichen Leuchten war der Meeresdämon kein bösartiger Zerstörer, sondern ein Leviathan, der das Meer durchquerte und dabei kaum ein von ihm kündendes Kräuseln hinterließ. Seine Farben schimmerten durch die Wellen und wurden immer strahlender, je näher er heranwogte.
    Ohne nachzudenken, kniete Gavin sich hin, als der Rücken des gewaltigen Wesens direkt unter seinem Boot durch die Wasseroberfläche brach. Bevor das Boot von dem Wasser mitgezogen wurde, das den gewaltigen Rücken zu beiden Seiten herabströmte, streckte Gavin die Hand aus und berührte die Haut des Meeresdämons. Er hatte eigentlich erwartet, dass eine die Wellen durchgleitende Kreatur schleimig sein würde, aber die Haut war überraschend rau, muskulös und warm.
    Einen kostbaren Augenblick lang hörte Gavin auf zu existieren. Es gab keinen Gavin Guile, keinen Dazen Guile, keinen Hohen Luxlord Prisma, keine katzbuckelnden, wehleidigen Würdenträger ohne Würde, keine Lügen, keine Satrapen, die es einzuschüchtern galt, keine Ratsmitglieder des Spektrums, die manipuliert werden mussten, keine Geliebten, keine Bastarde, keine Macht außer dieser Macht vor seinen Augen. Er fühlte sich klein, als er auf diese unfassbar riesigen Ausmaße starrte.
    Gekühlt von der sanften Morgenbrise und gewärmt von den beiden Sonnen, eine im Himmel, eine unter den Wellen, erfasste Gavin eine fast heitere Ruhe. Nie war er einem Moment der
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