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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein
Autoren: Wilhelm Schmid
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als Möglichkeit seiner selbst in den Blick zu nehmen. Nicht defensiv, sondern offensiv, nicht um einen Vorwurf an »die Gesellschaft«zu adressieren, sondern um das gesellschaftliche Verhältnis gegenüber Schwäche und Versagen individuell und im Verbund mit anderen durch einen veränderten eigenen Lebensvollzug zu korrigieren. Die andere Moderne wird eine schwache und in ihrer Schwäche stärkere Moderne sein.
    Wenn der Kern der Schwäche die Erfahrung von Ohnmacht ist, dann läuft die Strategie, ihr zu begegnen, auf den Gewinn von Macht hinaus, Macht im Sinne von Können. Auch wenn es nicht darum gehen kann, jegliche Ohnmacht, jeglichen Mangel an Können für immer hinter sich zu lassen, so doch darum, die Ohnmacht partiell zu überwinden und auf diese Weise lebbar zu machen. Kein allumfassendes Können steht in Frage, mit dessen Anspruch und Unerreichbarkeit gerade junge Menschen sich konfrontiert sehen, sehr wohl jedoch ein exemplarisches Können , eine einzige Sache, auf die das jeweilige Selbst sich wirklich versteht, zugespitzt: Fußball zu spielen oder Rechenkünste zu üben oder Liebe zu machen, das jedoch gekonnt . Und stets erarbeitet sich das Selbst dabei ein Können im Umgang mit der Schwäche selbst, ein Schwachsein können und Versagen dürfen , das leichter fällt, wenn es ein Residuum der Stärke gibt. Da es ausgeschlossen ist, ein Können im Moment der Schwäche selbst zu erwerben, muss es vorweg erarbeitet werden. Es kann konserviert werden in der Haltung, die der Schwäche gegenüber grundsätzlich eingenommen wird; sie muss aber frühzeitig justiert werden, um im fraglichen Moment verfügbar zu sein.
    Die Haltung zielt vor allem darauf, sich frei zu machen von der ständigen Anstrengung, stark sein zu müssen, frei von dem Aufwand, die Empfindung der Schwäche zu überspielen. Vielmehr vorweg sich sagen zu können: »Ich muss nicht brillieren, wozu auch? Um mir selbst und anderen etwas vorzumachen? Wozu soll das gut sein?« Gut ist eher der Verlust der Kraft, denn er ist von Bedeutung für ihren Wiedergewinn. Nicht so sehr in der Behauptung einer Kraft, die sich erschöpft hat, liegt die Möglichkeit ihres Wiedergewinns, sondern im Eingeständnis ihresVerlustes: Nur so kann sie sich erholen. Eine Dialektik von Stärke und Schwäche wird darin erkennbar: Je mehr das Selbst seiner Schwäche nachgibt, anstatt sie zu bekämpfen, umso eher gewinnt es die Stärke wieder, mit ihr zurechtzukommen, wenn auch nicht sie zu überwinden. Alle »Überwindung« kann nur ein temporäres, kein dauerhaftes Ziel sein, denn sporadisch kehrt die Schwäche wieder, ständig ist sie präsent, auf Dauer bleibt sie als Möglichkeit erhalten, ja sogar als Notwendigkeit, denn nicht die vermeintliche Stärke, sondern die Schwäche ist kreativ und produktiv: Sie treibt Sensibilität hervor, sie schärft das Bewusstsein, sie arbeitet an dem Werk, von dem das Selbst sich einen Zugewinn an Stärke verspricht. Die Notwendigkeit der Schwäche, mangels Stärke ungeschützt zu agieren, bricht verkrustete Strukturen auf und öffnet den Raum des Anderen, der Transformation: Neue Möglichkeiten der Gestaltung fliegen dem zu, der schwach sein kann. Neue Möglichkeiten der Begegnung kommen in den Blick, denn der, der schwach ist, öffnet sich für andere, wenn auch aus purer Not. Wer stark ist, bedarf anderer hingegen nicht – bis eine Schwäche ihn überkommt; dann aber ist er allein. Menschen scheitern an ihren Stärken eher als an ihren Schwächen; wahre Stärke ist daher, schwach sein zu können. Vielleicht gilt dies auch für die Philosophie, wenn einige Hoffnungen auf Lebenshilfe in sie gesetzt werden.
Lebenshilfe? Was es heißt, »eine Philosophie zu haben«
    Es sind diese Hoffnungen, die Intellektuelle in Furcht und Schrecken versetzen: Die Suche nach »Lebenshilfe« einer wachsenden Zahl von Menschen trifft auf das Entsetzen der Gebildeten, die nichts damit zu tun haben wollen. Woher die Heftigkeit der Nachfrage, warum die Entschiedenheit der Verweigerung? Die Nachfrage rührt her von all denen, die sich in ihrer Lebensbewältigung auf sich selbst gestellt sehen, eine Folge der verlorenen Tradition, Konvention, Religion, die bis ins Detail desAlltags hinein definieren konnten, wie zu leben ist. Praktisches Lebenwissen wird in der Moderne nicht mehr von Person zu Person, von Generation zu Generation weitergereicht; die fortschreitende Befreiung hat diese Kette unterbrochen. So findet sich das Individuum allein in seinem
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