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Die Heilerin von Lübeck

Die Heilerin von Lübeck

Titel: Die Heilerin von Lübeck
Autoren: Kari Köster-Lösche
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Kapitel 1
    Talekes Flug durch die Luft endete mit einem überraschten Schrei und unter Geplätscher im Wassergraben, der das Herrenhaus umgab.
    Sie konnte nicht schwimmen. Verzweifelt ruderte sie mit den Armen, um an der Oberfläche zu bleiben.
    Aber es war nur der Schreck, schwimmen war gar nicht nötig. Obwohl ihre Zehen langsam im Modder versanken, hätte sie an dieser Stelle auch schon als Sechsjährige neben den Gänsen, die zu hüten ihre Aufgabe war, stehen können. Und nun war sie wohl neunzehn oder zwanzig Sommer alt, so genau wusste das nicht einmal ihre Mutter, und hütete schon längst keine Gänse mehr.
    Mit Wut im Bauch blickte sie kurz zu Wilke Voet hoch, der am Rand des Grabens stehen geblieben war und zu überlegen schien, ob er hinabsteigen und sie ertränken sollte. Aber vor den Augen der dicken Köchin Ghese, die des Weges kam, in Gelächter ausbrach und damit rasch weitere Gesindeleute des holsteinischen Gutes Schönrade herbeilockte, wollte er sich die Blöße tropfnasser Kleidung wohl nicht geben.
    »Was haltet ihr hier Maulaffen feil! An die Arbeit, Leute!«, rief Wilke barsch, nachdem er sich eine Weile am Geraune und am spöttischen Kichern seiner Leute ergötzt hatte. Widerwillig zerstreute sich die Menge.
    Taleke starrte mit steif werdendem Nacken auf die Wasseroberfläche mit den öliggrauen Schlieren von behäbig treibendem Entenkot, von oben gewiss ein Bild des Schuldbewusstseins. Bis Wilke davonstapfte, wie sie hören konnte. Da hob sie flink den Kopf und spuckte hinter ihm her.
    Ihr Blick blieb an dem vierschrötigen Kerl hängen, der sich anfangs den Anschein von emsiger Tätigkeit und Fleiß gab, mit zunehmender Entfernung vom Graben jedoch immer langsamer wurde, bis sein Gang zum steinernen Doppelhaus der Besitzerfamilie zu einem bloßen Schlendern wurde. Als ob er daran Eigentumsrechte besäße und nicht wie jedermann hier sich seinen Lebensunterhalt verdienen müsste.
    Taleke hasste den Verwalter, der dem zum Gut gehörenden Wirtschaftshof vorstand, so wie sie den früheren Verwalter gehasst hatte, der sie einmal fast bis auf den Tod verprügelt hatte. Dabei hatte sie sich lediglich in das Herrenhaus geschlichen, um sich ein einziges Mal die hohe Halle anzusehen, mit deren Kenntnis sich die Hausdiener ständig vor dem Feldgesinde hervortaten. Und nur dafür hatte Wilke sie ins Wasser geworfen.
    Bis dahin kannte sie nur die Küche, in die Ghese sie hineinließ, wenn sie ihr eine geschlachtete und gerupfte Gans brachte. Zuweilen erwies sie Taleke die Gnade, dort herumlungern zu dürfen, bis der Braten für die Herrschaft fertig war. Kosten durfte sie nie, das blieb Gheses Vorrecht. Aber erschnuppert hatte Taleke alle Stadien des Kochvorgangs, sich jeden Handgriff gemerkt und zu ihrer eigenen Zufriedenheit an gestohlenen Gänschen erprobt.
    Taleke schnaubte verächtlich. Im gesamten Gut sah einer auf den anderen hinunter und dünkte sich etwas Besseres: die Hufebauern auf die Hausdienerschaft, die ihrerseits Spott trieb mit allen, denen es verboten war, das Herrenhaus zu betreten, also mit den Insten, die wiederum kaum einen Blick für die Tagelöhner übrighatten. Und alle zusammen verachteten sie die Dorfarmen und die umherstreifenden Bettler. Eifersucht und Neid waren die gängigen Zahlungsmittel.
    Ja, Taleke hasste die gesamte Wasserburg derer von Schönrade und das Leben, das ihr durch ihre ärmliche Geburt aufgezwungen war.
    Sie hing nicht einmal besonders an ihrer Mutter Hilka Wandmaker, die zu stolz und zu eigensinnig war, einen der Großknechte zu heiraten und so wenigstens in den Stand der Insten mit eigener Kate und kleinem Gärtchen aufzurücken. Dabei stammte sie doch nur aus Schwienkuhlen im dänischen Wohld, das gewiss nicht mehr als drei Hütten um ein Wasserloch aufwies, in dem sich Schweine suhlten.
    Mutter Hilka hatte es nicht einmal verstanden, Talekes Vater zu halten oder ihn wenigstens zu heiraten, bevor er auf Nimmerwiedersehen verschwand. Auf dem Gut Schönrade arbeitete sie als Tagelöhnerin auf dem Feld oder im Wirtschaftsgarten, hauste mit ihrer Tochter in einem Verschlag und musste für beides dankbar sein.
    Seitdem Taleke aus dem Alter des Gänsehütens heraus war, arbeitete sie wie ihre Mutter täglich viele Stunden auf dem Feld, half gelegentlich beim Kühemelken, bekam dafür eine noch kümmerlichere Entlohnung als ihre Mutter und war keineswegs dankbar, im Gegenteil. Während sie rutschend und laut fluchend aus dem Graben kletterte, beschloss sie,
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