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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein
Autoren: Wilhelm Schmid
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ihr Machtinstrument besteht darin, das denkende Ich keinen klaren Gedanken mehr fassen zu lassen und »Panik zu machen«. Um das Unfassbare fassbarer zu machen, werden diffuse Ängste auf einen konkreten Anlass reduziert, der vielleicht nichtig ist; sie werden in ein Problem projiziert, das inexistent sein kann. Im sozialen Gefüge müssen seit jeher ausgegrenzte »Andere« für diese Funktion der Simplifikation und Projektion herhalten: Einzelne Subjekte und ganze Kulturen versuchen ihren Stolz zu wahren, indem sie ihr Gefühl der Angst anderen zuschreiben, die als »schwächlich« gebrandmarkt werden. Im äußeren Machtspiel zwischen Menschen wird die Angst der einen zum Ansatzpunkt der Ausübung von Macht durch andere. Daher tut das denkende Ich bisweilen gut daran, das Aufsteigen der Angst in sich abzublocken, ihr im Einzelfall Rechtfertigung abzuverlangen, die nüchterne Analyse der beängstigenden Situation durchzusetzen, die wütende Angst wie einen Hofhund an die Kette zu legen, um ihre Fähigkeit zur Witterung bedrohlicher Situationen zu nutzen, ihre Impulse jedoch nicht so weit gehen zu lassen, das gesamte Selbst zu verbellen.
    Auch wenn Angst jeden Menschen früher oder später einholt, so doch die der Angst entwöhnten Menschen der Moderne in besonderer Weise. Das ist misslich, denn gerade die Moderne sollte die bedrängenden Ängste endlich besiegen, um auf weltliche Weise zu realisieren, was ursprünglich ein christliches Anliegen gewesen war: In der erlösten Welt sollten die Menschen von Bedrängnis befreit sein. Vielleicht fällt der Aufstand der Angst in moderner Zeit umso empörter aus, je mehr in ihr versucht wird, Emotionen wie diese auszuschalten. Da die gewohnte Geborgenheit in Zusammenhängen der Tradition, Konvention,Religion und Natur verloren gegangen ist, werden abseits alter Ängste auch noch neue wach. Im Unterschied zu den vormodernen, voraufklärerischen vor Geistern, Gespenstern, Teufeln, einem strafenden Gott, Fegefeuer und Hölle richten sie sich nun auf die soziale Vereinsamung, die technische Entwicklung, die politischen und ökonomischen »Systeme«, die ökologische Zerstörung, die metaphysische Sinnlosigkeit. Der moderne Traum der rationalen Kontrolle und Beherrschung von allem generiert die neue Angst vor ihrem Verlust.
    Beängstigend ist vor allem die moderne Freiheit selbst, denn sie ermöglicht auf neue Weise, das Leben zu verfehlen, sich in den von Befreiung eröffneten Möglichkeiten zu verlieren und die Verantwortung dafür sich selbst zumessen zu müssen. Ausgerechnet in der Moderne, die vormoderne materielle Existenzängste zurückgedrängt hat, macht sich ideelle Lebensangst breit, die Angst, ein Leben ohne Sinn zu leben. Herkömmliche Zusammenhänge und der Sinn, den sie vermitteln, sind fragwürdig geworden; Bindungen und Beziehungen, die diese Zusammenhänge konstituierten, haben sich aufgelöst, und Zusammenhänge selbst wieder herzustellen, wird noch nicht als Aufgabe begriffen. Selbst die »positive« Erfahrung von Wohlgefühl und Wohlstand kann sich noch ins »Negative« kehren und Phänomene der Ängstlichkeit und Sinnleere hervortreiben, da das Selbst »das Leben nicht mehr spürt«, nämlich dessen Spannung in aller Polarität. Wer das Leben zu einseitig auf »das Positive« festlegt, ängstigt sich im Übermaß, es zu verlieren oder gar nicht erst zu gewinnen; er ängstigt sich erst recht vor der Angst. Mitte des 20. Jahrhunderts konnte daher davon die Rede sein, die »Aufdringlichkeit des Angstphänomens« habe einen bisher nicht gekannten Grad erreicht.
    Moderner Sicht liegt es nahe, Angst als Krankheit oder Störung, als pathologisch oder dysfunktional zu verstehen. Aber sie könnte wohlbegründet sein und »Sinn machen«: als Ahnung der Grundlosigkeit, der Fragwürdigkeit und Brüchigkeit von allem.Wenn eine grundlegende Polarität des Lebens diejenige zwischen Oberfläche und Abgründigkeit ist, dann gehört die Angst, in welcher Form und zu welcher Zeit auch immer, von Grund auf dem Leben zu; aussichtslos, jemals mit ihr fertig werden zu wollen: Diese tragische Auffassung der Angst widerspricht der funktionalen , aus deren Sicht nur eine »Dysfunktion« zu beheben wäre (vgl. Fritz Riemann, Grundformen der Angst , 1961). Wo das pathologische Verständnis der Angst an seine Grenzen stößt, gewinnt die tragische Auffassung an Plausibilität: Angst ist für sie der profunde Einblick in den Aufbau und die Zusammensetzung von Wirklichkeit und Welt, in
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