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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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muss, wenn ich dazu noch fähig bin, diesen Moment überstehen, und vielleicht den darauf folgenden… Warum nur dauert es so qualvoll lange, bis das Riesenrad auch nur ruckt, dieses Rad des Entsetzens? So muss im Mittelalter gefoltert worden sein, langsam, grausam, jede Faser des Selbst einzeln zerstörend. Dann, plötzlich, ist es vorbei, ich betrete den Boden wieder, den ich vor Freude küssen möchte. Die Knie zittern, und ich muss zusehen, wie damit nun zu leben ist. Ich entscheide, die Erfahrung zunächst auf sich beruhen zu lassen, sie in mir zu bewahren als mein Eigentum, nicht ihr nachzugehen, sie nicht zu analysieren, mit niemandem darüber zu reden. Stattdessen die Einrichtung des Lebens für wichtiger zu halten als die Frage nach dem Grund , der Lebenskunst den Vorzug zu geben, ein Gegengewicht zu schaffen, Gewohnheiten zu pflegen, Schönes zu suchen, um die Angst auszubalancieren. Dann wird gelegentlich die Zeit und Sicherheit da sein zu klären, was geschehen ist – wenn überhaupt.
    So verliert die große, entsetzliche Angst ihre Kraft, aber klein und alltäglich kehrt sie immer wieder. Mitten auf dem Gehsteig überfällt sie mich, irgendwelche Angst, Lebensangst, Weltangst; ich weiß nicht recht, wie mir geschieht. Sie ist diffus wie ein Nebel. Ein Loch tut sich in mir auf, die Welt um mich herum versinkt zum tristen Nichts. Wenn ich jemandem davon erzähle, reicht es zu einem verständnisvollen Nicken, andere nehmen gleich Reißaus, denn die Angst ist »negativ«, sie »zieht herunter«. Angst macht einsam. Und doch unternehme ich nichts gegen sie, lasse sie gewähren, gebe mich ihr hin, wenigstens für einige Zeit, genügen ihr ein paar Tage? Ich will sie nicht überspielen, nicht betäuben, sondern in mich aufnehmen und durchstehen. Die Angst erscheint mir schließlich sogar wertvoll, ich kann ihr und mir Fragen stellen: Was ist es, das Angst macht; welche Zusammenhänge in mir selbst und in der Welt, in der ich lebe, treiben sie hervor? Gibt es ein Leben ganz ohne Angst? Was ist Angst, was ist Leben? Die Angst ist ein Anlass, nachdenklich zu werden,ein philosophischer Moment per se, ein Blick in Gründe und Abgründe.
    Gewöhnlich wird das Leben an der Oberfläche der Alltäglichkeit gelebt, aber unterhalb der Oberfläche tun Abgründe sich auf: Abgründe an Verzweiflung und Sinnlosigkeit, an Unglück und Tragik, an Bösem und »Unmenschlichem«, Abgründe an Banalität. Die Erfahrung des Abgründigen durchbricht das Gewöhnliche und die Gewohnheiten, in denen das alltägliche Leben wohnt. Im gewöhnlichen Alltagstrott, seiner Unreflektiertheit, seiner Eintönigkeit und Langeweile, kann es vorkommen, dass dieses Durchbrechen herbeigesehnt wird. Dies kehrt sich jedoch ins Gegenteil um, sobald das Abgründige wirklich aufbricht: In der Erfahrung des Abgründigen wird die Oberfläche des Gewöhnlichen erneut herbeigesehnt, Indiz für eine wechselseitige Bedingtheit. Die abgründige Erfahrung aber, die jede und jeder kennt, ist die Angst. Angst ist kein Privileg. Zur Angst sind alle Menschen fähig, sie kommt zu jedem auch ganz ungefragt, und sie scheint erstaunlich gerecht verteilt zu sein, erfasst Mächtige wie Ohnmächtige, Arme wie Reiche, und gerade diejenigen besonders nachhaltig, die sich abgesichert gegen alles glauben. Von Ängsten weiß jede und jeder zu berichten, von Kind auf prägen sie das menschliche Leben, und die zugehörige Erfahrung wird schon im Lateinischen mit angustía bezeichnet: Enge, Engpass, Bedrängnis, Beschränktheit, missliche Lage; weiter zurückgehend auf das griechische Verb áncho : Ich werde eingeschnürt, gewürgt, gequält. Die Weite der Möglichkeiten reduziert sich auf eine einzige, in ihrer Enge bedrohlichen Wirklichkeit, von der sich nicht immer mit Gewissheit sagen lässt, ob es sich »wirklich« so verhält, aber für das Verständnis der Angst ist dies wohl auch nicht von Belang: Das Selbst fühlt sich in jedem Fall beengt, und dies in lebensbedrohlichem Maße, da ihm die Luft zu atmen wirklich abgeschnürt wird.
    Angst ist erfahrbar als ein Gefühl, das von einer Bedrohung, von etwas, das unheimlich erscheint, ausgelöst wird; ein Gefühl,bei dem das Selbst sich als außerordentlich schwach und ausgeliefert erfährt, wozu es sich nicht gerne bekennt. Im inneren Machtspiel des Selbst ist Angst im Zweifelsfall stärker als das denkende Ich; entwicklungsgeschichtlich macht sie das ältere Recht geltend, die Auslösung des lebensrettenden Fluchtimpulses, und

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