Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein
Autoren: Wilhelm Schmid
Vom Netzwerk:
des inneren und äußeren Wir ein Grund für die Erfahrung von Sinnlosigkeit sein. Die Arbeit am inneren und äußeren Wir begründet umgekehrt eine starke Erfahrung von Sinn: So wie innere Zusammenhänge dafür sorgen, dass im Selbst verschiedene Stimmen sprechen können, so äußere dafür, dass es nach außen hin vielfältig vernetzt sein kann.
    Mag die Selbstbeziehung gewöhnlich parallel zu den Beziehungenzu anderen entstehen, so ist in Zeiten der Auflösung von Gewöhnlichkeit doch beim Selbst der Anfang zu machen. Nicht über andere, nur über sich kann das Individuum selbst im Zweifelsfall verfügen. Ein »systemisches«, auf das System der Beziehungen aufmerksames Verständnis des Selbst wäre daher um die Beziehung, die ein Selbst zu sich selbst unterhält und in wachsendem Maße erst selbst begründen muss, zu ergänzen. Aus guten Gründen galt in der antiken Philosophie das Erlernen des Umgangs mit sich selbst als Grundlage für den Umgang mit anderen: Denn nur der, der den Umgang mit sich selbst zu gestalten weiß, ist fähig zur Gestaltung des Umgangs mit anderen . Die Ethik des Umgangs mit sich sollte daher kunstvoll, das heißt durchdacht und gestaltet, nicht kunstlos, also unüberlegt und zufällig sein. Seit Aspasia, Sokrates, Platon steht hierfür der Begriff der Selbstsorge, epiméleia heautoũ . Daran lässt sich anknüpfen, um darüber nachzudenken, was unter Bedingungen der Moderne und im Hinblick auf eine andere Moderne daraus werden kann. Denn moderne Ethiken haben weitgehend darauf verzichtet – als würde sich der Umgang mit sich von selbst verstehen; als könnte nur der Umgang mit anderen ein seriöser Gegenstand von Ethik sein. Dass daran schon im Ansatz etwas falsch sein muss, erweist die ungehinderte Evolution des Egoismus, der dieser Ethik Hohn lacht.
    Daher nun der Versuch, die endlose moralische und immerzu fruchtlose Aufforderung zur Überwindung des Ich gerade durch dessen Bestärkung zu überwinden, es in seinem Ego selbst dazu zu befähigen, von sich absehen zu können, und dies nicht aus moralischen Gründen, sondern aus dem Eigeninteresse des Selbst heraus: Aus Egoismus zu dessen Milderung und zur gelegentlichen Abkehr von ihm, um der Klugheit willen, die aus eigenem Interesse die Zuwendung zu anderen sucht; um der Freiheit willen, die über alle Befreiung hinaus der Freiheit Formen gibt; um der Schönheit willen, die die Begegnung mit anderen grundsätzlich als bejahenswert wahrnimmt. Dieser Ansatzpunkt soll hiererprobt werden: vom Wir zurück zum Ich und zu seiner Sorge für sich selbst, um auf andere Weise vom Ich zum Wir und zur Sorge für andere zu kommen. Durchaus ist in dieser Sicht das Ich zuallererst für sich da. Aber gerade dann, wenn es das Dasein für sich in ausreichendem Maße realisiert, macht es die Erfahrung, dass es allein für sich kaum leben kann, inneren Reichtum nicht so sehr aus sich gewinnt und anderer auch noch aus anderem Grund bedarf: Nur im Umgang mit anderen sind neue Ressourcen für den Umgang mit sich selbst zu erschließen. Daher die Sorge für andere und die Herstellung von Gemeinsamkeit mit ihnen: aufgrund der Sorge für sich selbst. Dass eine sinnvolle Selbstbeziehung entsteht, ist die Grundlage für die Beziehung zu anderen, der Nukleus aller denkbaren Weiterungen des »Wir«: Paar, Familie, Freundeskreis, Haus, soziale Gruppierung, Institution, Firma, Gemeinde, Stadt, Gesellschaft, Nation, Generation, Kulturzugehörigkeit, Menschheit, Wesenheit. Im selben Maße, in dem ein Selbst die Beziehung zu sich gestaltet, wird es fähig zur freien Gestaltung der Beziehung zu anderen, und darum geht es bei der Arbeit an sich selbst, soll sie nicht bloßer Selbstzweck bleiben. Man sollte sich davon lösen, dies für unverantwortlichen Egoismus zu halten.
    Bei dieser Arbeit kann ein »Handbuch der Lebenskunst« behilflich sein: nicht als definitive, sondern als provisorische Handreichung für das moderne und andersmoderne Leben. Seine Absicht ist keine normative, richtiges Leben festlegende, wie einst in der Antike in Epiktets Handbüchlein ( Encheirídion ), sondern eine optative , Optionen eröffnende: etwas, das zur Hand ist, wenn Lebensfragen sich stellen; hermeneutischer Stoff, mit dessen Hilfe der je eigene Lebensvollzug durchdacht werden kann. Die Philosophie kann Vorschläge zum Verständnis und zur Gestaltung des Lebens machen, ausgehend von der zweifachen Frage, was als grundlegend für das Leben erscheint und welche Möglichkeiten des
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher