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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister
Autoren: Rosendorfer Herbert
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    »Trümmer von Sternen:
aus diesen Trümmern
bilde ich meine Welt.«
    FRIEDRICH NIETZSCHE
    ICH HATTE CARLONE dort kennengelernt, wo ich eigentlich nichts zu suchen hatte: im Musikwissenschaftlichen Institut. Ich will nicht erwähnen – wie nennt man das, wenn ich es doch erwähne? nein, nicht Oxymoron, das ist etwas anderes: Paralypse, glaube ich –, daß es das Kolleg über die sogenannte Freiwillige Gerichtsbarkeit war, in dem ich eigentlich etwas zu suchen gehabt hätte. Dies ein Oxymoron, vielleicht: Freiwillige Gerichtsbarkeit. Wer geht schon freiwillig zum Beispiel zum Vormundschaftsgericht. Oder zum Nachlaßgericht, es sei denn, der reiche Onkel ist gestorben, was selten vorkommt. Meist stirbt der arme Onkel, und die Kosten für den Kranz fressen die Ersparnisse auf. Oder er, der reiche Onkel, vermacht hinterhältig – er hatte einen, auch nur als Beispiel, gutgehenden Kran-Verleih – das Vermögen seiner Gaby, von der er die ganze Familie vorher wohlweislich nie etwas hatte hören lassen. Und der Nachlaßrichter, zu dem man unfreiwillig hingeht, erklärt einem dann, daß zwar gegenüber Vater und Mutter ein Pflichtteils-Anspruch besteht, nicht aber gegen einen verblichenen Onkel.
    »Viel versäumt hast du nicht«, sagte später der Kollege Wolfhaupt, der brav im Kolleg war, »der Professor hat langatmig über Gesetzliche Erbfolge und den Pflichtteils-Anspruch geredet, und was da der Unterschied ist. Kannst es in seinem Buch nachlesen.«
    Dagegen hätte ich im Proseminar über Gustav Mahler sehr wohl etwas versäumt.
    Das alles ist über fünfzig Jahre her.
    *
    Da gehe ich heute in Venedig in ein Restaurant in der Nähe der Rialtobrücke, es heißt La Madonna, und treffe wen? Man muß wissen, daß dieses Restaurant, die Trattoria La Madonna , eine Ausnahme von der Regel bildet, daß man unter keinen Umständen in der Nähe des Rialto oder des Markusplatzes seinen Fuß essenshalber über die Schwelle eines gastronomischen Etablissements setzen darf, wenn man nicht der gängigen Auslegung des Preis-Leistungs-Verhältnisses venezianischer Touristenausnehmer zum Opfer fallen will. Aber die Madonna in der gleichnamigen Calle (diese aber seltsamerweise ohne zweites n : Madona ) befindet sich nicht in ganz unmittelbarer Nähe des Rialto, sondern etwas versteckt in der genannten Gasse, die zudem auch am Tag finster ist und, wie gesagt, überhaupt eine Ausnahme, die sich schon dadurch manifestiert, daß dort Einheimische verkehren. Es gibt Einheimische in Venedig, also sogenannte Venezianer. Wenige, aber es gibt sie. Sie wohnen zwar zumeist in Mestre, aber ein paar … ja, und die gehen in die Madonna.
    Oft habe ich das Gefühl: alle.
    Das bringt mit sich, daß in dem an sich eher geräumigen Lokal die Tische auf Tuchfühlung aneinandergerückt stehen, daß man kaum an den anderen Essern vorbei zu dem vom Kellner zugewiesenen Tisch gelangt und daß man möglichst keinen zu langen Fisch bestellen sollte, weil dessen Schwanz oder Kopf sonst dem Nachbarn in die Spaghetti ragt.
    Und laut. Tosender Lärm. Bestellungen werden gebrüllt, es wird nach il conto , nach Öl, Salz, einer neuen Serviette, einer Gabel, um Hilfe gerufen. Die vielen Kellner – tadellos in Weiß/Schwarz, versteht sich – wuseln … (Ein beliebtes Spiel unter Venezianern: Wie viele Kellner bedienen in der Madonna ? Nicht zu zählen, verschiebt sich ständig. Es ist so etwas wie die Heisenbergsche Unschärferelation.)
    Alles in allem: Nie ein Platz frei, wenn man unangekündigt kommt. Es sei denn, man hat Glück. Ich hatte Glück: Ein einziger Platz an einem Zweiertisch war frei. Der Kellner fuchtelte wegweisend in die Richtung. Und wer saß schon an dem Tisch? Carlone.
    *
    Die Tiefe der Jahre: fünfzig. Ein halbes Jahrhundert. Kaum weniger als, zum Beispiel, Beethoven gelebt hat. Was ist da alles passiert in den fünfzig Jahren?
    »Können Sie sich noch an die Mondlandung erinnern?«
    »Ach ja.«
    »Können Sie sich noch an den Marxismus – Leninismus erinnern?«
    »Ach ja.«
    Vor fünfzig Jahren – da hat, auch zum Beispiel, Strawinsky noch gelebt. Jetzt ist er schon zum Klassiker geronnen.
    Aber ich habe Carlone sofort wiedererkannt.
    »Am starken Hüftumfang erkennt man den ehemaligen Sportler«, sagte er.
    (Auch schon damals! Hat nie einen Tennisschläger oder einen Skistock angefaßt. Der Glückliche.)
    Der Hüftumfang war ein bißchen »stärker« geworden, aber sonst: »Reifer«, sagte er. »Schöner«, sagte ich.
    »Und was
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