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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein
Autoren: Wilhelm Schmid
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denn vor allem dieser Tod treibt nicht enden wollende Deutungen hervor.
    Probleme eigener Art wirft die Wahl auf, die das Selbst trifft, ohne sie selbst vollziehen zu können, sodass es aktiver Sterbehilfe bedarf: Sie zieht andere in die Verantwortung und bedarf aus Gründen der Vorsicht und Rücksicht einiger Regelungen. Für alle Fälle der Selbsttötung lässt sich mit guten Argumenten bezweifeln, ob in der äußersten Situation eine wirkliche Wahl zu treffen ist. Aber die entscheidenden Fragen lassen sich ebenso gut den Lebenden stellen: Wissen sie wirklich, was sie tun? Haben sie es sich gut überlegt? Haben sie, frei von allen Zwängen, eine bewusste Wahl getroffen, ihr Leben wirklich zu leben? Der Mensch ist nun mal das Lebewesen, das das Leben auch verweigern kann. Ein Zwang zum Leben, eine Verpflichtung, leben zu müssen, ist nicht erkennbar; es handelt sich beim Leben nicht von selbst um einen »Wert an sich«. Die Wahl, ihm gleichwohl einen solchen Wert zuzumessen, ist eine Formgebung der Freiheit vor dem Hintergrund einer möglichen Abwahl des Lebens. Wird diese Wertsetzung nicht vorgenommen, bleibt das Leben allerdings unbestimmt, äußerlich, gleichgültig, und wird nicht wirklich angeeignet. Erst in der Auseinandersetzung mit dem Tod gewinnt das Leben Sinn und Wert, sodass es gerade die Fragedes Todes ist, die entschieden zum Leben führt. Ist dieses Denken gefährlich? Zweifellos birgt schon der bloße Gedanke an Selbsttötung die Gefahr in sich, diesen Weg im Zweifelsfall auch zu gehen. Aber ist das Leben ohne Gefahren wie diese etwa zu haben?
    »Ich bin nicht krank, ich weiß nur, dass das Leben nicht wert ist, gelebt zu werden«, schreit Frau C im Theaterstück Crave (»Gier«, eigentlich jedoch: Ersehnen, Erflehen) der englischen Dramatikerin Sarah Kane, die im Jahr nach diesem Stück von 1998 die Selbsttötung vollzog. Genau dies aber, dass das Leben nicht wert ist, gelebt zu werden, kann Frau C nicht wirklich wissen, nicht definitiv und nicht objektiv, denn dazu bedürfte sie eines Blicks über das gesamte wirkliche und mögliche Leben, wie er allenfalls einem Gott vorbehalten ist. In ihrem hinterlassenen Stück 4.48 Psychosis schreibt Sarah Kane fest, dass nichts auf Erden dem Leben noch »irgendeinen Sinn geben« könnte, sodass der Freitod auf 4 Uhr 48 programmiert wird, »wenn die Verzweiflung mich überkommt«. Aber wie viele Erfahrungen auch immer sie schon gemacht haben mochte, die Vielzahl möglicher Erfahrungen vermochte sie doch nicht zu erschöpfen; ihre Perspektive auf Leben, Selbst und Welt konnte sie so wenig wie irgendein anderer Mensch einfach hinter sich lassen. Ist diese Sichtweise etwa selbst nur eine Frage der Perspektive, die absolute »Wahrheit« für sich beansprucht? Aber alle Erfahrung spricht dafür, dass Leben nie nur das ist, was es aktuell zu sein scheint; dass immer noch eine andere Perspektive möglich ist und keine Perspektive die Fülle der Möglichkeiten erschöpfen kann, die durch Deutung und Erfahrung immer wieder neu zu eröffnen sind.
    Welche Wahl jedoch auch immer getroffen wird, um die Kunst des Sterbens geht es in jedem Fall. Ihretwegen ist dem Begriff der Euthanasie die eigentliche Bedeutung als »gutes Sterben« und »schöner Tod« ( eu - thánatos ) zurückzugeben, ohne allzu romantische Vorstellungen damit zu verbinden, denn das Sterbenkann dennoch unendlich leidvoll, der Tod elend und hässlich sein. Zur Kunst kann Sterben in zweifacher Hinsicht werden: im Umgang des Selbst mit sich in der Stunde seiner größten Not (der absoluten Notwendigkeit); jedoch auch im Umgang des Selbst mit anderen, die sterben, um sie in der Stunde ihrer Not nicht zu verlassen. Individuell ließe sich die Kultur der Moderne modifizieren, die im Versuch, den Tod zu negieren, den Einzelnen entsetzlich allein lässt mit ihm. Eine andere Moderne wird eine andere Kultur des Lebens mit dem Tod sein. Keine Rückkehr zu prämodernen Umgangsweisen mit dem Tod steht dabei in Frage, nur eine Modifikation der modernen Haltung, um die Sterbenden nicht allein zu lassen, die Lebenden aber davor zu bewahren, vor Sterbenden zu fliehen in panischer Furcht, bevor sie selbst eingeholt werden vom Tod. Die Bindung zwischen Menschen, die auf diese Weise bestärkt wird oder erst neu entsteht, bleibt bestehen weit über den Tod hinaus. Der Gestorbene mag sein Leben in Gestalt einer Person beendet haben, sein Wesen aber lebt weiter in den Lebenden, bleibt ihr treuer Begleiter, trägt zu ihrem
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