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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein
Autoren: Wilhelm Schmid
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inneren Reichtum bei und erhält sich selbst durch sie hindurch am Leben. Das ist wohl der starke Trost, den jede Bindung über den Tod hinaus zu vermitteln vermag: die Gewissheit, nicht wirklich zu sterben, auch wenn der Körper und wohl das gesamte Subjekt in dieser Gestalt verfällt.
Über sich hinaus: Gibt es ein Leben nach dem Tod?
    Für die Lebenden ist der Tod erfahrbar als der Tod anderer. Er ist erfahrbar als der Augenblick, in dem jeglicher Schleier zerreißt und das Leben nackt dasteht. Alles Leben erscheint nur noch als Tod und nichts sonst. Eine metaphysische Erschütterung ist spürbar, wenn ein Mensch ins Leben tritt – und wenn er es verlässt, wenn die Reise durch die Zeit, die das Leben ist, zu Ende geht. Die Spannung und Spannweite des Lebens zwischen Geburt und Tod, all die Ängste, Hoffnungen, Enttäuschungen, Lüste, Schmerzen,Aufbrüche, Abbrüche, Bindungen, Trennungen, endlosen Diskurse, Überlegungen, Entscheidungen, Rechtfertigungen, Entschuldigungen, Schönheiten, Hässlichkeiten, die ganze »Katastrophe« – schrumpft letztlich zum Bindestrich zwischen Geburts- und Todesjahr. Und das soll alles gewesen sein? Aber dass der Tod das definitive Ende des Lebens ist, ist nur ein Glaube und kann keineswegs ein Wissen sein. Möglich ist ebenso der Glaube, dass es sich anders verhält. Entscheidend ist die eigene Überlegung, die Wahl und Haltung des Selbst hierzu. Ontologisch lässt sich der Tod verstehen als ein Verlassen der einzigen Wirklichkeit, zu der dieses Leben geworden ist, als Rückkehr in den unendlichen Raum der Möglichkeit, als ein »Heimgehen« in diesem Sinne, da das Selbst ursprünglich von dort gekommen ist.
    Jedenfalls ist eine solche Vorstellung von Transzendenz ein möglicher Gedanke des Selbst, unabhängig davon, ob dem eine Wirklichkeit entspricht – immerhin lässt sich die Möglichkeit , dass es sich so verhält, schwerlich leugnen. Wichtiger als der Begriff erscheint, ein Bewusstsein über sich hinaus zu gewinnen; letztlich handelt es sich nicht um eine Frage des Wissens, sondern der Haltung: So wird die Lebenskunst zum »strukturell unendlichen Spiel«. Die Vorstellung eines »Darüberhinaus« führt dazu, sich nicht in sich und die eigene Endlichkeit einzuschließen, und sie ist eine mögliche Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. Das Bewusstsein, als endlicher Mensch inmitten unendlicher Güter zu leben, kann dazu führen, wie Epikur meinte, »wie ein Gott unter den Menschen« zu leben ( Brief an Menoikeus , 135). Es sorgt zu Lebzeiten schon für ein Leben, das seinen umfassendsten Zusammenhang nicht mehr innerhalb seiner selbst sucht, und für ein Selbst, das sich nicht mehr metaphysisch einsam fühlt. Im Moment der Schwäche, wenn spürbar wird, dass die Arbeit am Sinn einen Aufwand an Kraft erfordert, der nicht mehr zu erbringen ist, kann das Selbst sich eingebettet fühlen in einen Zusammenhang von Endlichkeit und Unendlichkeit, der die Erfahrung von Sinnlosigkeit fern hält. Nicht allein der Blickzurück auf ein schönes Leben erfüllt letztlich das Selbst, sondern die Erfahrung einer Fülle über das gelebte Leben hinaus, die Erfahrung der Geborgenheit in einer Unendlichkeit auch auf weltliche Weise, in völlig nüchterner Mystik . Wurde das wirkliche Leben einst in ein Jenseits projiziert, gefolgt von einer Entwertung des irdischen Daseins, so verlegte die moderne Gegenreaktion das Leben gänzlich ins Diesseits, mit der Folge einer Art von Lebensstress, da nun innerhalb enger zeitlicher und räumlicher Grenzen dieses »eine Leben« zu leben war. Das mögliche andere Leben hingegen eröffnet im Diesseits ein Jenseits der Möglichkeit nach; das Selbst kultiviert die Fähigkeit einer Distanz zu sich, die ihm jede Enge des gelebten Lebens zu transzendieren erlaubt. Einem möglichen anderen Leben lässt sich jetzt anvertrauen, was in diesem Leben nicht zu realisieren war. Eine Konsequenz dieser Haltung ist Gelassenheit anstelle der verzweifelten Lebensgier, die in der Moderne um sich gegriffen hat.
    Als Übergang zu einem anderen Leben, als Möglichkeit zu neuem Leben: In diesem Sinne kann auch der Tod schön und bejahenswert sein, jedenfalls kann er so verstanden werden. Eine antike philosophische Auffassung ließe sich wieder entdecken, wie sie in Epiktets Unterredungen zu finden ist: Geboren, »als die Welt seiner bedurfte«, wird der Mensch mit seinem Tod »ein andres Ding, dessen die Welt nun bedarf« ( Diatriben III, 24). Der Mensch wird wieder
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