Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stumme Angst (German Edition)

Stumme Angst (German Edition)

Titel: Stumme Angst (German Edition)
Autoren: Christina Stein
Vom Netzwerk:
Freitag, Tag 1, Liam

    S o könnte die Geschichte enden. Mit Anna, die fort bleibt. Die nicht ans Telefon geht, schon seit Stunden nicht, seine zermürbenden Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter. Erinnerungen rieseln durch die Zeit, häufen sich an, zu Schattenbergen an der Wand. Zuletzt fällt das Licht golden, in schrägen Streifen, die Staubkörner darin sind müde, bis er Wirrwarr hineinpustet. Er beschließt, sie wieder anzurufen, sobald die letzte Lichtzunge sein Gesicht streift.
    »Hey, ich bin’s. Wo bist du? Ich hab den Tisch schon gedeckt, die Nudeln trocknen im Sieb aus. Es sollte welche mit Salbeisoße geben, schon vergessen? Der Hund will deine Portion wegfressen. Also, beeil dich!«
    Man sollte nicht vergessen, dass Verabredungen manchmal nichts bedeuten. Dass man sie bloß trifft, weil man sagen will: Ich bin mir nicht sicher.
    Er ist am Verhungern, genau wie der Hund, er rührt im Topf und schlingt die Nudeln direkt am Herd hinunter. Der Tisch hinter ihm: für zwei Personen gedeckt. Sogar Servietten, sogar Kerzen, eine Blume in der einzigen Vase, die er besitzt, doch das ist wie allein im Restaurant essen gehen. Zwischendurch lässt er eine Nudel fallen und der Hund schnappt sie noch in der Luft, schluckt gierig, ohne zu kauen.
    In die Stille hinein sagt er: »Wir sind versetzt worden.«
    Etwas wie sein eigenes Echo prallt von der Wand ab, er erschrickt, auch das Licht ist bloß noch ein Gedanke an Wärme, er schaltet lieber die Glotze ein.
    Er schaltet sie besser wieder aus, was an einem Freitagabend kommt, ist ein Albtraum. Er findet: dummes Fernsehen für dumme Menschen.
    Stattdessen schenkt er sich Wein nach, und der Hund legt den warmen Kopf auf seine Füße: Allein sein könnte schön sein, wenn man sich dazu entschieden hat.
    Das Zimmer ist dunkel und grau, die Zeiger der Uhr kriechen voran, es ist halb elf. Seine Stimme rattert auf ihrem AB: »Was soll das, Anna? Wir waren verabredet , oder? Hast du mich nicht heute Nachmittag noch in der Redaktion angerufen und vorgeschlagen : Liam, lass uns was zusammen kochen? Also, ruf an. Ich fühl mich langsam verarscht.«
    Der Hund muss pinkeln, im Hausflur riecht es nach Sauerkraut, Liam fragt sich, wie man das nur kochen kann, im Hochsommer. Kurz darauf steht er vor dem einzigen Grünstreifen der Straße, ein verkümmerter Baum streckt seine mageren Arme in die Nacht, zu wenig Licht, zu viel Hundepisse in den engen Straßen der Altstadt. Die Schlappohren des Hundes streifen den Boden, er balanciert zwischen dem Kot der anderen Tiere. Wie immer ist Liam angewidert und zieht ihn fort – könnte er Anna wenigstens zum Waschen der Ohren bestellen.
    Er denkt an ihr beruhigendes Murmeln, wenn sie ihn einseift, ihn krault, bis sich der Köter selbst in der Badewanne auf den Rücken legt. Eingeschäumter Hund, umherflutschend wie ein glitschiger Aal mit angezogenen Pfoten. Annas Lachen und der rote Bikini, den sie dazu trägt. Ihr Schreien, sobald er sich ausschüttelt.
    Er redet sich ein: Sie wird einen Grund haben. Ihr Handy auszuschalten, nicht zurückzurufen. Vielleicht ist ihr Akku leer, vielleicht gibt es weit und breit keine Telefonzelle.
    Der Gedanke an ihr Gesicht, noch an diesem Morgen. Keine Spur von einem leeren Akku. Ihr Lächeln, als sie aufwachte, den Streit vom Vorabend schien sie vergessen zu haben. Ohnehin: Ein richtiger Streit war es nicht gewesen. Schließlich schlief sie nicht mit dem Gesicht zur Wand ein. Schließlich fuhr sie nicht nach Hause, sondern hatte bei ihm übernachtet, sich küssen lassen.
    Was war der Auslöser für den Streit gewesen? Irgendeine dumme Bemerkung über ihre Freundin Marie.
    »Warum lästerst du ständig über sie?«, motzte Anna und wandte sich ab.
    Weil sie seltsam ist, hätte er am liebsten geantwortet. Weil sie ständig anruft. Doch er blieb still. Es gab etwas an Marie, das er nicht fassen konnte. Und solange er das nicht konnte, hielt er lieber die Klappe. Legte stattdessen einen Arm um Anna und küsste sie auf den Nacken.
    »Tut mir leid.«
    Sie wandte ihm den Rücken zu. Er stellte sich ihre grünen Augen vor, die dichten Wimpern. Ihr Gesicht von eben wollte er nicht mehr sehen. Im Streit ist es bei jedem hässlich. Ist man verliebt und sieht es zum ersten Mal, kann man sich erschrecken.
    Der Hund zieht Liam weiter. Vorbei am Schaufenster des gegenüberliegenden Sexshops, wie immer hebt er an der Ladenecke das Bein. Die Frauen auf den Postern hat Liam schon so oft angeschaut, dass er ihre Konturen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher