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Mirage: Roman (German Edition)

Mirage: Roman (German Edition)

Titel: Mirage: Roman (German Edition)
Autoren: Matt Ruff
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er die Silhouette eines Hauses und Gesichter einer Familie, die er kannte. Er sagte: »So Gott will.«
    Auffrischung …
    Überall auf dem Globus – in Berlin und den besetzten Gebieten, in London und Teheran, Kabul und Denver, Chicago und Jakarta, Islamabad und Corpus Christi, Los Angeles und Mumbai, in Alexandrien und Alexandria – hatte der Sturm die Landschaft geschliffen, war wie eine gewaltige Stimme durch die Heime und Hütten der Mächtigen und der Demütigen gedonnert: Auffrischung. Auffrischung. Dies ist der Tag, der die Welt verändert …
    Und in Bagdad fand sich ein hochgewachsener Mann, der durch die Korridore eines Palasts stolziert war, mit einem Mal im Freien wieder, der vollen Wucht des Sturmes ausgesetzt. Der Wind riss ihm das Gewehr aus den Händen, und der prasselnde Sand zwang ihn in die Knie. Blind krallte er sich voran, Schutz suchend, eine Höhle, in die er sich verkriechen könnte. Es gab nichts. Ihm schwanden rasch die Kräfte. Er sank zu Boden, spürte, wie sich rings um ihnSand anhäufte, und machte sich darauf gefasst, lebendig begraben zu werden.
    Der Sturm hörte abrupt auf. Der hochgewachsene Mann hob den Kopf und sah nur Finsternis. Er stand in der schwarzen Windstille auf, der eigenen mühsamen Atmung lauschend, und spürte mehr, als dass er hörte, die schweren Schritte hinter sich herankommen. Seine Nackenhaare sträubten sich. Heißer Atem wisperte in sein Ohr, als jemand, der noch größer war als er, sich über seine Schulter beugte.
    »Wer da?«, sagte Osama bin Laden, und dann drehte er sich um.



A ls Mustafa wieder zu sich kommt, liegt er auf einem großen Haufen Sand, einer Düne unter vielen, einer See von Sand, die sich bis zum Horizont hindehnt. Die Sahara ist die naheliegendste Vermutung, aber es könnte ebenso gut die Rub al-Khali sein oder die Nafud oder etwas vollkommen Neues.
    Er kniet wie zum Gebet, und tatsächlich ist es die richtige Zeit dafür: Als er nach oben schaut, steht die Sonne genau im Zenit. Aber anstatt sich niederzuwerfen, steht er auf, klopft sich den Sand vom Gewand, das er aus irgendeinem Grund jetzt trägt. Der Saum des Gewandes rutscht ein Stück hoch, und er sieht, dass seine Füße in Ledersandalen stecken, ein gutes Paar, ordentlich eingelaufen.
    Er richtet sich auf und fährt mit seiner Inventur fort. Dinge, die er hat: ein Gewand. Bequemes Schuhwerk. Die erste Andeutung eines Bartes. Dinge, die er nicht hat: Taschen. Eine Brieftasche. Eine Uhr. Eine Karte. Essen. Wasser. Letzteres könnte ein Problem werden, obwohl er noch nicht durstig ist. Da er annimmt, dass er es bald sein wird, dreht er sich um für den Fall, dass es hinter ihm vielleicht eine Oase gibt. Gibt es nicht; nur weitere Dünen. Er hat so viel Sand, wie er sich nur wünschen kann.
    Als er seine Umdrehung fortsetzt, macht er etwas anderes aus, das ein paar Meter von ihm entfernt aus der Düne schaut: einen Stiefel. Er geht die paar Schritte und zieht ihn heraus, schüttet den Sand aus und dreht und wendet ihn in den Händen. Es ist ein hoher Stiefel, lohfarbenes Leder und Nylon, mit einer dicken Gummisohle. Er trägt keinerlei Aufschrift, weder innen noch außen, aber er sieht nach Militär aus.
    Schön, denkt Mustafa, jetzt habe ich einen Stiefel. Aber es ist die falsche Größe – er sieht es, noch bevor er ihn gegen die Sohle seiner Sandalen hält –, und sein Kumpel ist nirgendwo zu sehen, also wirft er ihn ein paar Momente später weg und sieht ihm nach, wie er den Dünenhang hinunterrollt und springt.
    Als der Stiefel schließlich liegen bleibt, entdeckt er eine weitere Bewegung am Rand seines Gesichtsfelds: Amal und Samir, die die zwei Hänge der Düne heraufsteigen. Amal trägt eine blaue Abaya, die im Sonnenlicht gleißt. Samir ist städtisch gekleidet: Socken und Slipper, Khakihose, ein Baumwollhemd, das schon schweißfleckig ist.
    Mustafa nickt ihnen grüßend zu, und sie nicken zurück, jeder so beiläufig, als wäre sich mitten im Nirgendwo zu begegnen das Natürlichste von der Welt. Was es in dieser Welt vielleicht auch ist. Sie stehen nebeneinander auf dem Grat der Düne und blicken hinaus über den hohen, welligen Sand, der sich in die Ferne dehnt.
    Samir spricht als Erster. »Schön«, sagt er, »da sind wir also alle in der Wüste.« Er schaut auf seine leeren Hände: »Mit nichts.«
    »Zumindest sind wir am Leben«, steuert Amal bei.
    »Das ist eine mögliche Theorie«, sagt Mustafa. Aber er sagt es gutmütig, nicht so sehr optimistisch als
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