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Mirage: Roman (German Edition)

Mirage: Roman (German Edition)

Titel: Mirage: Roman (German Edition)
Autoren: Matt Ruff
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zurück. Alser zurückkommt, haben Samir und Amal einen Dosenöffner gefunden. »Feigen«, sagt Amal. Sie setzen sich hinten hinein und essen Obst, lecken sich Sirup von den Fingern. Dann werden sie schläfrig.
    Mustafa macht ein Nickerchen von einer knappen Stunde. Als er aufwacht, schnarcht Samir wie eine Kreissäge, und Amal ist verschwunden. Er geht nach draußen und sieht sie aufrecht auf der Fahrerkabine stehen, auf der Beifahrertür balancierend. Sie beschattet sich die Augen. »Ich sehe eine Stadt«, sagt sie. Mustafa schaut in dieselbe Richtung, aber ihm versperrt eine Düne die Sicht, also klettert er zu ihr hinauf.
    Jetzt sieht er sie auch: weit hinten am Horizont, flimmernd und unbestimmt, unmöglich zu schätzen, wie weit entfernt. »Ich sehe Türme«, sagt Amal. »Siehst du Türme?«
    »Ich sehe irgendetwas«, sagt Mustafa.
    Sie wecken Samir. Er sieht sie auch. »Ich hoffe, sie sind real«, sagt er. »Ich hoffe, die Menschen, die dort wohnen, sprechen Arabisch.«
    »Wenn sie Englisch sprechen«, sagt Mustafa, »werde ich dolmetschen.«
    »Und wenn sie Farsi sprechen«, sagt Amal, »werde ich euch sagen, was ihr nicht sagen sollt.«
    Sie brechen auf. Die Dünen wirken jetzt nicht mehr so steil, also klettern sie darüber weg, rauf und runter, und um sich die Zeit zu vertreiben, spielen sie ein Spiel. Wenn sie jeweils auf einem Dünenkamm stehen und die Stadt ist sichtbar, beschreiben sie, was sie zu erkennen meinen. Wenn sie in einem Tal sind und die Stadt ist verborgen, unterhalten sie sich darüber, was sie gern sehen würden, was sie dort zu finden hoffen, wenn sie erst mal da sind.
    »Ich hoffe, es gibt keine Prohibition mehr«, sagt Samir. »Ich hätte Lust auf ein kaltes Bier.«
    »Ich hoffe, es gibt mehr Frauen im Kongress«, sagt Amal. »Eine Präsidentin wäre was Feines.«
    »Ich hoffe, es gibt einen Kongress«, sagt Mustafa. »Irgendeine Art Republik – eine wirkliche Republik.«
    »Hoffen«. Sie achten darauf, dieses Wort zu benutzen, und nicht »wünschen«. Und sie achten darauf, nicht von Freunden oder Angehörigen zu sprechen. Aber in den langen Gesprächspausen, während sie sich hinauf- oder hinunterkämpfen, ist das ihr Gedanke: Wer wird sie wohl erwarten.
    Amal denkt an ihren Vater. Sie stellt ihn sich auf der Außentreppe des Rathauses vor, in Uniform, Schulter an Schulter mit all den anderen, die ihr Leben für die Gerechtigkeit hingaben: Das sind sie. Sie hofft, einmal wieder neben ihm zu stehen, aber sollte das zu viel verlangt sein, ist sie bereit, an seiner Stelle zu stehen und sein Vermächtnis fortzuführen.
    Samir denkt an seine Söhne. In seinem Herzen spürt er die Gewissheit, dass sie irgendwo sind. Weniger sicher ist er sich, ob er sie wird sehen dürfen. Aber außer für Malik und Jibril ist in seinen Hoffnungen auch Platz für einen anderen – nicht so sehr einen bestimmten Menschen, einen bestimmten Mann, als vielmehr für die Idee eines solchen. Es ist nach wie vor keine Idee, die er auszusprechen wagen würde, aber zumindest kann er sie jetzt fassen und sich fragen, ob nicht diesseits des Sturms manche Dinge möglich sein könnten, die früher nicht möglich waren.
    Mustafa denkt natürlich an Fadwa. Er weiß nicht, ob er sie wiedersehen wird. Er weiß nicht, ob – falls ja – irgendetwas anders sein wird. Er würde ihr gern sagen können, dass es ihm leidtut und dass er durchaus willens wäre, es noch einmal zu versuchen – versuchen, liebevoll zu sein. Ehrlich zu sein. Ein bisschen weniger idiotisch zu sein. Es zu versuchen bedeutet allerdings nicht, es auch zu schaffen, und er ist noch immer derselbe Mensch, mit denselben Fehlern.
    Aber er ist willens, es zu versuchen. Und um Hilfe zu bitten. Und genau das ist seine größte Hoffnung: dass in der Stadt jemand sein wird, den er um Hilfe bei seinem Kampfbitten kann – dem Kampf um die Zukunft, der er sich nach wie vor stellen muss, und dem Kampf um die Vergangenheit, die er loszulassen lernen muss.
    Sie wandern den ganzen Rest dieses Tages, eines Tages, der nicht enden zu wollen scheint. Aber schließlich endet er doch. Als die Sonne unter den Horizont sinkt, erklimmen sie eine letzte Düne, und da ist sie, hingebreitet über die Ebene unter ihnen: eine Stadt mit weißen Mauern, in der die Lichter des Abends gerade erst aufblinken.
    Sie stehen auf dem Dünenkamm und schauen hinab.
    »Sie kommt mir nicht bekannt vor«, sagt Amal. »Euch?«
    »Nein«, sagt Samir.
    »Nein«, sagt Mustafa.
    Aber völlig fremd ist
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