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Mirage: Roman (German Edition)

Mirage: Roman (German Edition)

Titel: Mirage: Roman (German Edition)
Autoren: Matt Ruff
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sehe ich nicht den Zusammenhang, den Sie zwischen sogenannter Säkularisierung und Gesetzlosigkeit herzustellen versuchen. Wenn Sie die Statistiken aufmerksam durchlesen, werden Sie feststellen, dass die steigende Mordrate mit einer Zunahme des organisierten Verbrechens einhergeht. Wenn Menschen in ihrem Streben nach illegalen Profiten zur Gewalt greifen, besteht das Problem nicht in ihrer mangelnden Hingabe an Gott; das Problem ist die Tatsache, dass sie Gangster sind.«
    Ein Räuspern vonseiten des anderen Gastes der Talkshow, des Herausgebers des ›Bagdad-Herolds‹, erregt die Aufmerksamkeit des Talkmasters.
    »Herr Aziz? Möchten Sie das kommentieren?«
    »Nun, ich bin ja nur ein minderwertiger Christ«, sagt Tariq Aziz, »und ich würde mich nicht im Traum erdreisten, meinen muslimischen Brüdern und Schwestern einen Vortrag über das Ringen um Gerechtigkeit zu halten – aberwenn Menschen sich dazu entschließen, Gangster zu werden, so würde ich das als ein deutliches Zeichen dafür ansehen, dass es mit ihrer Hingabe an Gott nicht allzu weit her ist …«
    »Was ist Ihre Meinung dazu, Frau Bürgermeisterin?«
    »Wenn Tariq Aziz sich für einen minderwertigen Christen hält, so werde ich ihm nicht widersprechen«, erklärt darauf Anmar al-Maysani. »Aber vielleicht würde es Herrn Aziz nicht schaden, sich auf einen Vers aus den Psalmen Davids zu besinnen: ›Den Bösen will ich nicht kennen.‹ Und auch die dreiundsechzigste Sure des Heiligen Korans enthält mehrere Verse, die ich ihm ebenfalls ans Herz legen könnte …«
    »Ich würde der Bürgermeisterin empfehlen, sich anzuschauen, was der Gesetzgeber zum Thema ›üble Nachrede‹ zu sagen hat«, gibt Aziz zurück.
    »Es ist mir mehr als recht, wenn wir auf das Gesetz zu sprechen kommen«, entgegnet die Bürgermeisterin. »Nur durch Wahrung des Gesetzes werden wir, so Gott will, dieses Problem lösen.«
    »Doch das wirft ein weiteres Problem auf, nicht wahr?«, sagt der Moderator. »Mittlerweile repräsentieren Sie in dieser Stadt nun schon seit mehreren Jahren das Gesetz. Und dennoch ist die Situation nur noch schlimmer geworden.«
    »Stimmt, in letzter Zeit hat sie sich verschlimmert, aber …«
    »Ja, genau, in letzter Zeit: gerade nachdem der Stadtrat Ihnen weitreichendere Vollmachten eingeräumt hat. Manche könnten dies als Zeichen dafür werten, dass man Ihnen zu viele Vollmachten eingeräumt hat … dass Sie der Verantwortung Ihres Amtes nicht gewachsen sind. Und manche könnten noch weitergehen und erklären, dass Gott dem Maß an Verantwortung, das eine Frau auf sich zu nehmen vermag, eine natürliche Grenze gesetzt hat und dass Sie versucht haben, diese Grenze zu überschreiten – mit vorhersehbaren Folgen. Frau Bürgermeisterin … Wie denken Sie darüber?«
    7 Uhr 59. Unten am Fluss ist es Zeit für eine weitere Runde im Krieg gegen die Drogen: Ein junger Bootsführer, der gerade an einem Pier unter der Brücke des 14. Juli festgemacht hat, sieht sich plötzlich nicht von den Schmugglern, die er erwartet hatte, sondern von uniformierten Beamten der Halal-Behörde umzingelt.
    Samir, der Einsatzleiter, hat den Körperbau eines Bodybuilders.
    »Ehe du mich anlügst«, sagt er und wedelt mit einem warnenden Finger vor dem Gesicht des Jünglings, »möchte ich, dass du über Folgendes nachdenkst. Wir wissen, dass dein Name Khalil Nufan ist, dass du hier anlegen wirst und worin deine Fracht besteht. Und wir wissen, dass du einen Onkel namens Ziad hast, der bis über beide Ohren in Spielschulden steckt. Das alles wissen wir. Und darum frag dich selbst: Was wissen wir noch?«
    Der Junge blinzelt langsam. Sein Gesichtsausdruck verrät, dass mit seinem IQ kein Blumentopf zu gewinnen ist. Darum klingt seine Antwort auch so, als würde er von einem Spickzettel ablesen.
    »Ich transportiere Obst.«
    »Genau.« Ein anderer Beamter ist ins Boot gestiegen und rüttelt an einem Stapel Kartons, die laut Aufschrift Bananen enthalten. »Heute früh muss es draußen auf dem Wasser ja sehr kalt gewesen sein«, witzelt er, als er ein verräterisches Klirren hört, und reißt dann einen der oberen Kartons auf. Er holt eine Flasche heraus. »Sieh sich das einer an: gefrorenes Obst in Form einer Weinflasche.«
    Der Bootsführer blinzelt daraufhin etwas schneller und weicht auf eine Alternativgeschichte aus.
    »Der ist für die Juden. Für die Hauptsynagoge.«
    Samir lacht. »Hörst du das, Isaak?«, sagt er zu dem Beamten auf dem Boot. »Dein Oberrabbiner schmuggelt
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