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Mueller hoch Drei

Mueller hoch Drei

Titel: Mueller hoch Drei
Autoren: Burkhard Spinnen
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Überraschung
    E s war am ersten Sonntag der großen Sommerferien, sieben Tage vor meinem vierzehnten Geburtstag, da verkündeten mir meine Eltern, sie würden sich trennen. Und zwar jetzt. Auf der Stelle. Sie standen vor mir im Flur, luftig gekleidet, sie hatten sich bei den Händen gefasst wie zwei Schulkinder, und wie aus einem Munde sagten sie: »Wir trennen uns.«
    Zuerst brachte ich kein Wort heraus. Ich war bloß erschüttert. Und mir stand leuchtend hell eine Zahl vor Augen: die Dreiunddreißig. Nach meiner letzten Kontrollrechnung waren nämlich genau dreiunddreißig Prozent meiner Klassenkameraden Scheidungskinder, die Sitzenbleiber und die Klassenüberspringer nicht einmal mitgerechnet. Ich hatte ziemlich viel Zeit damit verbracht, über die Scheidungen in meiner Klasse Buch zu führen und die Betroffenen eingehend zu befragen. Man muss ja schließlich wissen, was um einen herum passiert.
    Doch erst jetzt ging mir auf, dass ich nie damit gerechnet hatte, es könnte mich selbst einmal erwischen. Ich kam mir vor wie ein Afrikaforscher, der Tag für Tag Giftschlangen untersucht und keine Sekunde lang fürchtet, er könnte gebissen werden. Aus Verzweiflung, mehr aber noch aus Scham über meine Naivität, wurde ich knallrot. Jedenfalls fühlte sich mein Gesicht von innen knallrot an.
    Außerdem stand wohl darauf zu lesen, was ich dachte. »Es ist nicht, was du denkst!«, sagte meine Mutter rasch. »Von Scheidung kann keine Rede sein. Papa und ich verstehen uns glänzend. Wir bleiben sicher ein Leben lang zusammen.« Sie machte eine kleine Pause. Dann sagte sie: »Wir trennen uns bloß von dir.«
    »Ach so.« Mehr sagte ich nicht, weil ich in dieser Sekunde erfuhr, wie das ist, wenn einem die Worte im Hals stecken bleiben.
    »Deine Mutter und ich«, sagte mein Vater, »haben beschlossen, uns in Zukunft mehr mit uns selbst zu befassen. Wir wollen unsere Beziehung vertiefen. Wir werden älter, da wird es Zeit, inniger zueinanderzufinden. Und was dabei am meisten stört, bist du. Deshalb werden wir uns von dir trennen.«
    Aha! Ich sollte also kein Scheidungskind werden, sondern – was? Eine Verlassenswaise? Gab es das überhaupt? Ich versuchte mir meine Zukunft ohne Eltern auszumalen, doch dazu fehlte mir in diesen Sekunden die Fantasie. Außerdem verstopften die vielen Worte, die ich sagen wollte, jetzt endgültig meine Luftröhre von unten her, so dass ich von oben keine Luft mehr bekam. Das wollte ich auch gerne mitteilen, weil ich es für wichtig hielt, brachte aber nur eine Art Pfeifen heraus, ähnlich wie ein Fahrradschlauch, der gerne platzen würde, aber nicht kann.
    Papa schien das zu bemerken und gab mir eine leichte therapeutische Ohrfeige. Der Wortstau in meinem Hals löste sich auf, ich sagte »Danke« und bekam wieder Luft. Aber es war nicht viel, und als ich dann Sätze sagte wie: »Seid ihr verrückt geworden!«, »Was soll der Unsinn!« und »Das könnt ihr doch nicht machen!«, da klang das gar nicht vorwurfsvoll, sondern eher ein bisschen verquietscht und albern.
    Mama hob einen Zeigefinger. »Hab dich ein bisschen besser unter Kontrolle. Und werd möglichst schnell erwachsen! Du bekommst natürlich das Haus. Ab sofort lebst du hier alleine, da solltest du besser ruhig und souverän sein, wie es sich für allein lebende Menschen gehört.«
    »Und du solltest endlich darüber Bescheid wissen, wie es im richtigen Leben zugeht«, sagte Papa. »Aber keine Angst! Wir haben dir einen Grundkurs in Lebensbewältigung hinterlassen. An die wichtigsten Sachen haben wir Zettel geklebt. Da steht alles drauf. Wie du die Waschmaschine bedienst. Wie du den Müll trennst. Wie du die Beutel im Staubsauger wechselst. Eben alles, was man braucht, wenn man für sich selbst verantwortlich ist.«
    Meine Mutter schaute auf die Uhr. »Aber für lange Erläuterungen ist jetzt leider keine Zeit mehr.« Und dann wiesen meine Eltern auf die Koffer, die sie unbemerkt, jedenfalls unbemerkt von mir, gepackt und in den Flur geschafft hatten.
    »Wir haben auch nicht viel Zeit für gefühlvolle Abschiede«, sagte mein Vater. »Wir beginnen unser neues Leben nämlich mit einer Weltreise. Und unser Flug in die Karibik geht in zwei Stunden.« Darauf sagte meine Mutter »Hach!« und küsste meinen Vater auf eine Art und Weise, dass ich dringend weggucken musste. »Wie sehr ich mich darauf gefreut habe«, sagte sie, als sie mit dem Küssen fertig war. »Antigua, Barbados, Jamaika. Und anschließend New York, London, Rom, Paris.
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