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Metro 2034

Metro 2034

Titel: Metro 2034
Autoren: Dmitry Glukhovsky
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ist alles vorbei.«
EPILOG
    Homer seufzte und blätterte um. Es war nur noch wenig Platz in seinem Buch - nur ein paar Seiten. Was sollte er hineinschreiben, was würde er opfern müssen? Er hielt die Hand ans Feuer, um die kalten Finger zu wärmen und zu beruhigen.
    Der Alte hatte selbst um seine Versetzung zur Südwache gebeten. Hier, den Blick in den Tunnel gerichtet, konnte er besser arbeiten als zu Hause an der Sewastopolskaja, zwischen all den Haufen toter Zeitungen, auch wenn Jelena sich bemühte, ihm seine Ruhe zu lassen.
    Homer sah auf. Der Brigadier saß abseits von den anderen Wachen, an der äußersten Grenze zwischen Licht und Finsternis. Warum hatte er ausgerechnet die Sewastopolskaja gewählt? Irgendwas an dieser Station musste wohl doch besonders sein. Hunter hatte dem Alten nie erzählt, wer ihm damals an der Poljanka erschienen war. Doch Homer wusste jetzt: Es war keine Prophezeiung gewesen, sondern eine Warnung. Nach einer Woche war das Wasser an de Tulskaja allmählich wieder zurückgegangen. Die letzten Reste wurden mit den riesigen Pumpen der Ringlinie abgesaugt, und Homer hatte sich sofort freiwillig gemeldet, um mit den ersten Aufklärern die Station zu betreten. Fast dreihundert Opfer hatte die Katastrophe gefordert. Während Homer all die Leichen umdrehte, spürte er keinen Ekel, ja er empfand überhaupt nichts. Er suchte nur sie, suchte immer weiter. Danach war er noch lange an der Stelle gesessen, wo er Sascha zum letzten Mal gesehen hatte. Als er gezögert hatte, anstatt darum zu kämpfen, dass er zu ihr laufen konnte. Um sie zu retten. Oder mit ihr unterzugehen. Ein endloser Zug aus Kranken und Gesunden wanderte an ihm vorbei -in Richtung Sewastopolskaja, zu den heilsamen Tunneln der Kachowskaja-Linie. Der Musiker hatte nicht gelogen: Die Strahlung hielt die Krankheit tatsächlich auf. Und wer weiß: Vielleicht hatte er ja überhaupt nicht gelogen. Vielleicht gab es auch die Smaragdene Stadt tatsächlich irgendwo, und man musste nur das Tor dazu finden. Vielleicht hatte er aber auch oft genug vor dem richtigen Tor gestanden und es bloß noch nicht verdient, dass es sich vor ihm öffnete. Nun würde er es nicht mehr erleben, wenn »das Wasser zurückging«. Doch nicht die Smaragdene Stadt war die Arche; die wahre Arche war die Metro selbst. Die letzte Zuflucht, die sowohl Noah als auch Sem und Ham vor den dunklen, stürmischen Wassern verbarg, den Gerechten ebenso wie den Gleichgültigen und den Schurken. Von jedem Tier ein Paar. Von jedem, der noch eine Rechnung offen hatte - ob Gläubiger oder Schuldner.
    Es waren zu viele, das stand fest -nicht alle würden in diesem Roman unterkommen können. Das Notizbuch des Alten hatte fast keine freien Seiten mehr. Es war keine Arche, sondern ein Papierschiffchen, es würde nicht alle Menschen mit an Bord nehmen können. Und dennoch hatte Homer das Gefühl, dass es ihm fast gelungen war, mit vorsichtigem Strich etwas sehr Wichtiges auf diese Seiten zu bringen. Nicht über diese Menschen. Über den Menschen.
    Die Erinnerung an jene, die von uns gegangen sind, vergeht nicht, dachte er. Denn unsere Welt ist gewoben aus den Taten und Gedanken anderer Menschen, so wie jeder von uns aus unzähligen Mosaiksteinchen besteht, die er von Tausenden von Vorfahren geerbt hat. Sie haben eine Spur hinterlassen, einen kleinen Teil ihrer Seele für die Nachkommen. Man muss nur genau hinsehen.
    Auch Homers Schiffchen, gefaltet aus Papier, aus Gedanken und Erinnerungen, würde unendlich lang über den Ozean der Zeit schwimmen, bis jemand anders es aufhob, es betrachtete und begriff, dass der Mensch sich niemals geändert hatte, ja dass er sich sogar nach dem Ende der Welt treu geblieben war. Das Himmelsfeuer, das einmal in ihn gelegt worden war, kämpfte im Wind, doch es war nicht erloschen.
    Homers Rechnung war beglichen.
    Er schloss die Augen und fand sich an einer funkelnden, von gleißendem Licht durchfluteten Station wieder. Auf dem Bahnsteig hatten sich Tausende Menschen versammelt. Sie trugen elegante Kleider aus jener Zeit, als er noch jung gewesen war, als noch niemand daran gedacht hatte, ihn Homer zu nennen. Doch diesmal waren auch Menschen darunter, die in der Metro gelebt hatten.
    Keiner wunderte sich, dass die anderen anwesend waren. Etwas verband sie alle.
    Sie warteten, blickten unruhig in das dunkle Gewölbe des Tunnels. Und auf einmal erkannte Homer die Gesichter. Es waren seine Frau und seine Kinder, die
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