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Zwischen zwei Nächten

Zwischen zwei Nächten

Titel: Zwischen zwei Nächten
Autoren: Edith Kneifl
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    Unscharf und verschwommen sieht sie, wie der Sarg an dicken Seilen hinuntergelassen wird und in der Grube verschwindet. Sie will dieses Bild für immer im Gedächtnis behalten.
    Die beklommene Stille weicht heftigem Schluchzen und Seufzern der Trauer oder der Erleichterung. Sie dreht sich um.
     
    Groß und elegant stand Anna in der Tür. In den Händen hielt sie ein Tablett mit zwei Gläsern und einer Flasche Wein. Das Alter konnte ihr nichts anhaben, im Gegenteil, sie war attraktiver denn je. Die kantigen, scharf geschnittenen Züge paßten viel besser zu der vierzigjährigen Frau als zu dem jungen Mädchen, das immer ein wenig grobschlächtig und hölzern gewirkt hatte. Auch der strenge Knoten und die grauen Strähnen in ihrem dunkelblonden Haar standen ihr gut.
    Die beiden Freundinnen hatten einander jahrelang nicht gesehen, zum letzten Mal anläßlich eines Kongresses in New York. Damals hatte sich Anna geweigert, bei ihrer Freundin, die eine kleine Wohnung mit zwei Männern teilte, abzusteigen und die sterile Atmosphäre eines first class Hotels bevorzugt. Ann-Marie war beleidigt gewesen, und sie hatten sich nur einmal auf einen schnellen Drink getroffen.
    Dieses letzte Wiedersehen war für beide eine Enttäuschung gewesen. Sporadisch kam nachher noch Post über den Atlantik, geschmacklose Ansichtskarten von Anna, die irgendwo im Süden allein oder mit ihrem Ehemann Urlaub machte; zu Weihnachten traf regelmäßig ein großzügiger Scheck in New York ein, zum Geburtstag und zu Silvester ein Anruf. Und dann, vor einer Woche, dieser Brief.
    Ann-Marie hatte noch seltener von sich hören lassen. Briefschreiben zählte nicht zu ihren Stärken. Sie schickte höchstens einmal ein Foto mit lieben Grüßen.
    „Komm her, laß dich genauer ansehen.“
    „Dasselbe wollte ich gerade zu dir sagen. – Du hast dich kaum verändert“, meinte Anna verlegen.
    Sie tauschten beinahe ängstliche Blicke aus.
    Ann-Marie mißfiel der verhärmte Zug um Annas Mund.
    Und das beige Kleid – von Dior? – ist unmöglich, es sieht aus wie ein Jutesack und macht sie blaß.
    Modeschau am Friedhof. Haute Couture und Versandhaus. Der Ausverkauf findet heuer früher statt. Hübsche Sommermäntel in zarten Pastelltönen. Schwarz ist keine Modefarbe. Dunkle Schirme, gewöhnliche Herrenschirme und extravagante, futuristisch anmutende Damenschirme, überdimensional und gefährlich.
    Sie besitzt keinen Schirm. Das nasse, strähnige Haar hängt ihr ins Gesicht, verdeckt die roten Flecken auf ihren Wangen.
    Unter den Schirmen ernste Gesichter, aber nur wenige Tränen. Manche Leute können nicht weinen, wenn der Schmerz zu groß ist. Es fällt ohnehin genügend Naß auf den schlammigen Boden rund um das frische Grab. Auch die alten Kastanienbäume lassen unter der Last der schweren Tropfen ihre Blätter hängen. Raschelndes Laub und ein kühler Wind kündigen den nahenden Herbst an.
    Ihre Freundschaft hatte an einem Spätsommertag vor mehr als dreißig Jahren begonnen. Anna war von der frechen, lustigen Ann-Marie sofort begeistert gewesen und ihr vom ersten Schultag an nachgelaufen wie ein kleiner Hund. Ann-Marie hatte sich durch die Bewunderung des intelligenten, aber sehr schüchternen Mädchens geschmeichelt gefühlt. Und so galten die zwei bald als unzertrennlich.
    Sie besuchten dieselben Schulen, saßen acht Jahre lang in einer Bank und teilten sich während ihrer Studienzeit eine Wohnung. Kleider, Bücher, Platten, alles teilten sie miteinander, selbst die Männer. Ann-Marie mangelte es nie an Verehrern, da sie Männer nicht sehr ernst nahm, liefen sie ihr nach. Großzügig, wie sie nun einmal war, überließ sie ihrer Freundin jeden, der dieser gefiel.
    Anna fragte sich, ob ihre Freundin wohl nach wie vor noch so viel Erfolg bei Männern hatte.
    Auch Alfred hatte sie damals, bei ihrem letzten Besuch in Wien, sehr attraktiv gefunden. Aber sein Urteil zählte nicht, er lief jeder Schürze nach.
    Ann-Marie entsprach nicht unbedingt dem Schönheitsideal der Werbung und Illustrierten. Ihr Gesicht war von übermäßigem Alkoholgenuß gezeichnet, die Nase zu lang und der Mund zu breit. Das Schönste an ihr waren ihre großen, braunen Augen.
    Auf ihren geheimnisvoll entrückten Blick, den sie allein ihrer Kurzsichtigkeit verdankte, und auf ihr charmantes, unwiderstehliches Lächeln fielen auch heute noch genügend Männer ’rein.
    Für eine Frau besaß Ann-Marie ungewöhnlich kräftige Hände und muskulöse Arme. Ihre ausladenden Hüften
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