Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zwischen zwei Nächten

Zwischen zwei Nächten

Titel: Zwischen zwei Nächten
Autoren: Edith Kneifl
Vom Netzwerk:
der Toten nachwerfen könnte. Am liebsten würde sie hinterherspringen. Und da löst sich noch einmal die seltsame Erstarrung, noch einmal läßt sie sich von ihren Tränen, Tränen der Verzweiflung und des Entsetzens, überwältigen. Zunächst scheint es unfaßbar, und dann kommt plötzlich die Trauer, nimmt von ihr Besitz, es existiert nichts mehr außer dieser Trauer.
    Als Annas verzweifelter Brief eintraf, hatte sie keine Sekunde gezögert, sondern sofort ihr Sparbuch geplündert und einen Platz in der nächsten Chartermaschine nach Wien gebucht.
    Anna hatte sie in aller Herrgottsfrüh vom Flughafen abgeholt. Alfred, ihr „überflüssiger Ehemann“ – wie sie ihn zu nennen pflegte –, befand sich zum Glück auf einer seiner, in letzter Zeit immer häufiger werdenden, Dienstreisen. Die kleine Margot aus ihrem Büro war rein zufällig zur selben Zeit erkrankt. Anna widerstand der Versuchung und rief nicht bei ihr zu Hause an, um sich nach ihrem werten Befinden zu erkundigen. Vielleicht würde sie „dieses kleine Miststück“ demnächst hinauswerfen, nur so zum Spaß, um Alfred eins auszuwischen, denn ihr war es längst egal, mit wem er schlief.
    Sie konnte es nicht fassen, daß Ann-Marie tatsächlich gekommen war, hoffte nur, daß sie sich wenigstens das Ticket bezahlen lassen würde.
    Da Anna unfähig war, ihre Zuneigung anders zu zeigen, hätte sie ihrer Freundin wenigstens finanziell gern unter die Arme gegriffen.
    Der Türkische Kaffee war fertig. Ann-Marie leerte ihre Tasse in einem Zug, dann nahm sie Annas Tasse, drehte sie um und las ihr aus dem Kaffeesud die Zukunft. Sie prophezeite ihr heiße Nächte im sonnigen Süden und eine Affäre mit einem blendend aussehenden jungen Mann.
    Anna errötete und kicherte wie ein Schulmädchen.
    „Du müßtest dich nur ein wenig jugendlicher kleiden, meine Liebe. Du ziehst dich an wie eine alte Jungfer.“
    „Das hast du schon vor zwanzig Jahren behauptet.“
    „Ich weiß, aber anscheinend hat all mein Predigen nichts genützt.“
    Die Ansprache des Seelsorgers ist kurz gewesen. Ein richtiger Pfarrer hat sich nicht blicken lassen. Mit solch gottlosen Fällen wollen die Gottesmänner lieber nichts zu tun haben. Aber der Stellvertreter hat seine Aufgabe zur allgemeinen Zufriedenheit erfüllt, ohne Pathos und ohne zu sehr auf die Tränendrüsen zu drücken. Wem nach Weinen zumute ist, der weint ohnehin und benötigt keine zusätzliche Aufforderung.
    Gestern nacht, als sie in der Aufbahrungshalle einen letzten Blick auf die Tote werfen durfte, hat sie auch geweint. Der Friedhof ist für die Öffentlichkeit längst gesperrt gewesen, aber der freundliche Pförtner hat Verständnis gezeigt und sie hineingelassen, ohne einen Groschen zu nehmen. Dann hat er sich in den hintersten Winkel der Halle zurückgezogen und sie mit ihrem Schmerz alleingelassen.
    Sie mußte diesen letzten Blick auf den Leichnam werfen, um zu begreifen, daß das Unfaßbare eingetreten ist. Sie wollte sich mit eigenen Augen von der grausamen Wahrheit überzeugen. Allein, ungestört, gleich nach ihrer Ankunft und nicht erst am Morgen des Begräbnisses, gemeinsam mit den anderen, die gekommen sind, um ebenfalls Abschied zu nehmen.
    Wie eine Puppe hat sie ausgesehen. Ob man sie kosmetisch behandelt hat? Präpariert wie ein ausgestopftes Tier?
    Der protzige, reichlich verzierte Sarg hat diesen Eindruck der Künstlichkeit noch verstärkt.
    Theatralisch, lächerlich und unwirklich, wie eine Bühneninszenierung.
    Die ungewöhnliche Ordnung irritierte Ann-Marie. Ihre verwöhnte Freundin war mindestens ebenso schlampig wie sie selbst und von klein auf daran gewöhnt, daß jemand für sie aufräumte.
    Seit ihrem letzten Besuch hatte sich hier einiges verändert. Das Dachgeschoß beherbergte jetzt nicht nur die Wohnräume des Architektenehepaares, sondern auch ihr Büro. Wohn- und Arbeitsbereich waren durch eine etwa sechzig Quadratmeter große Terrasse getrennt. Die begrünte Terrasse erweckte Assoziationen zu einem Häuschen auf dem Land: in der Stadt und doch im Grünen. Früher hatten die Räume, in denen jetzt das Büro untergebracht war, zur Wohnung gehört, und das Büro hatte sich im unteren Stockwerk befunden.
    Anna erklärte die veränderte Situation mit Sparmaßnahmen.
    „Ich habe lieber an Räumlichkeiten als an Personal gespart. Als ich nach Vaters Tod das Büro übernahm, sind die Aufträge plötzlich ausgeblieben, und Wettbewerb haben wir auch schon lange keinen mehr gewonnen.“
    Ann-Marie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher