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Zwischen zwei Nächten

Zwischen zwei Nächten

Titel: Zwischen zwei Nächten
Autoren: Edith Kneifl
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versteckte sie gern unter weiten Röcken, aber ihre Beine und ihr Busen konnten sich sehen lassen.
    Anna, die viel Zeit bei Zahnärzten verbrachte, beneidete Ann-Marie vor allem um ihre gesunden Zähne.
    „Wenn ich so strahlend weiße Zähne hätte wie du, würde ich immer nur lächeln. Du hast ein richtiges Pferdegebiß – bei Frauen soll das ja ein untrügliches Zeichen von Intelligenz sein.“
    „Du liest zu viele Frauenmagazine.“
    Anna lachte.
    „Aber eine Brille hast du dir noch immer nicht angeschafft.“
    Schon in der Volksschule hatten sie wegen Ann-Maries Kurzsichtigkeit immer in der ersten Bank sitzen müssen. Ann-Marie war blind wie ein Maulwurf, doch weder ihre Eltern noch wohlmeinende Lehrer hatten sie dazu bewegen können, eine Brille zu tragen. Als Jugendliche hatte sie es einmal mit Haftschalen versucht – tränende und ständig gerötete Augen waren das Resultat –, es blieb bei diesem einen Versuch, lieber fand sie sich damit ab, ihre Umwelt nur äußerst eingeschränkt wahrzunehmen.
    Sie sieht kaum bekannte Gesichter, und nur wenige Trauergäste kennen sie. Neugierige Blicke treffen die Fremde in Schwarz, die sich nach vorn in die erste Reihe gedrängt hat.
    Kein Wort hat man von ihr gehört, keinen Gruß und keine Geste des Beileids für den trauernden Ehemann.
    Sie spricht nicht, schüttelt keine Hände, steht nur steif und stumm da, anklagend allein schon durch ihre armselige Kleidung. In ihrer altmodischen, schwarzen Hose und ihrem viel zu weiten Herrenpullover wirkt sie unter den gut gekleideten Trauergästen fehl am Platz. Die große, dunkle Brille verleiht ihr zusätzlich etwas Geheimnisvolles. Sie erinnert an einen abgetakelten Filmstar, bemüht um sein Inkognito.
    Die Frau in Schwarz scheint den anderen keine Aufmerksamkeit zu schenken, und doch beobachtet sie alle Anwesenden haarscharf durch ihre spiegelnden Gläser.
    Ann-Marie wirkte sehr müde. Obwohl sie behauptete, überall und zu jeder Zeit schlafen zu können, fühlte sie sich nach neun Stunden Flug wie gerädert.
    „Leg dich ein bißchen aufs Ohr, Annemarie“, schlug Anna vor.
    Sie durfte als einzige ‚Annemarie‘ sagen. Seit ihre Freundin in den USA lebte, ließ sie das ‚e‘ in der Mitte ihres Namens weg.
    Ann-Marie winkte dankend ab. Da sie am nächsten Tag zu ihren Eltern fahren wollte, blieben ihnen nur knapp vierundzwanzig Stunden Zeit füreinander.
    „Mein Türkischer wird dich wieder auf die Beine bringen.“
    Anna erhob sich, um Kaffee zu kochen.
    Ann-Marie lehnte sich zurück, schloß die Augen und träumte vom dritten Wiener Gemeindebezirk.
    Nach Vaters Pensionierung waren ihre Eltern aufs Land gezogen, doch aufgewachsen war sie in einem Eckhaus in der Erdbergstraße. Das Service mit dem Zwiebelmuster, das nur an Sonn- und Feiertagen verwendet wurde, hatte, jedesmal wenn die Straßenbahn vorbeifuhr, gefährlich zu klappern begonnen. Und abends, wenn der Vater von der Arbeit heimgekommen war – er war am Landstraßer Bahnhof beschäftigt gewesen –, hatte er den Fernsehapparat eingeschaltet und war bis Mitternacht oder zumindest bis zur Bundeshymne vor dem flimmernden Bildschirm gesessen. Da er schwerhörig war, lief der Kasten immer in voller Lautstärke. An Lärm hatte es in ihrer Kindheit nie gemangelt.
    Ob das dreistöckige Zinshaus, in dem sie gewohnt hatten, noch stand? Es wurde viel gebaut in Wien, wahrscheinlich hatte sich in Erdberg alles verändert. Vielleicht hatte auch der kleine Beserlpark, in dem sie ihre ersten Raufereien und ihre ersten Küsse glücklich überstanden hatte, dem U-Bahnbau weichen müssen.
    Sie hätte ihrer alten Heimat gern einen kurzen Besuch abgestattet. Aber sie würde Anna wohl kaum zu einem Spaziergang überreden können, und um diese Zeit war es nicht ratsam, sich mit dem Auto durch die Innenstadt zu wagen.
    Anna fühlte sich ohne Auto völlig hilflos. Selbst die paar Meter bis zum nächsten Postamt legte sie mit dem Wagen zurück. Die regelmäßigen Sonntagsausflüge mit ihren Eltern hatten ihr das Spazierengehen gründlich verleidet.
    Die Trauergemeinde zieht jetzt am offenen Grab vorbei. Viele verwelkte Rosen, die vor den Friedhofstoren günstig angeboten werden, folgen dem Sarg. Eine Handvoll Erde, vermischt mit Kieselsteinen und Laub, ein kurzes ‚Leb wohl‘ – wer’s glaubt.
    Diejenigen, die verweilen, werden von den Nachkommenden zum Weitergehen gedrängt. Wer will schon länger als unbedingt nötig im Regen stehen?
    Sie hat nichts in der Hand, was sie
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