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Setz dich über alles weg

Setz dich über alles weg

Titel: Setz dich über alles weg
Autoren: Mary Bard
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Angemessene
ärztliche Pflege
     
    Ein Arzt, Doktor oder Medikus ist eine Person,
die von den zuständigen Behörden die Erlaubnis erhalten hat, Medizin zu
praktizieren.
    Ein Ehemann oder Gatte ist eine Person,
die von den zuständigen Behörden die Erlaubnis erhalten hat, jeden Abend um
fünf Uhr zehn nach Hause zu kommen, zu essen, mit den Kindern zu spielen, die
›Times‹ zu lesen und im Garten zu buddeln.
    Man kombiniere die beiden — und was
kommt dabei heraus? Ein Gatte, der die Erlaubnis hat, jeden Abend um fünf Uhr
zehn nach Hause zu kommen, zu essen, mit den Kindern zu spielen, die ›Time‹ zu
lesen, im Garten zu buddeln und außerdem Medizin zu praktizieren? Nein.
Sondern: ein Zuglüftchen im Flur, eine Tür, die zuknallt, ein leerer Stuhl am
Tisch und eine Stimme im Telefon.
    Wenn ich das gewußt hätte, würde ich
Jim trotzdem geheiratet haben. Es war nun aber so, daß zu der Zeit, da ich Jim
kennenlernte, die Bards so gut wie gar keine Berührung mit ärztlichen Kreisen
gehabt hatten. Wir haben freilich in unserer Familie eine Menge Intellektuelle,
aber es sind meist Anwälte, Geistliche und Techniker. Ihre Frauen sind brav,
geduldig, folgsam, produzieren eine überdurchschnittliche Anzahl von Nachkommen
und akzeptieren, zumindest nach außen, die Sitten ihrer Generation und die Vorschriften
ihrer Männer.
    Als Papa und Mama heirateten — er war
damals ein junger Bergwerksingenieur aus dem Westen — , entriß er sie den
unwilligen Armen einer New Yorker Familie, die in den Traditionen der
Jahrhundertwende aufgewachsen war, und schleppte sie nach Butte ins ferne
Montana. Butte war in jenen Tagen ein junges und munteres Städtchen. Die bunte
und abenteuerliche Atmosphäre gefiel meiner Mutter, die selber ein sehr
lebenslustiger und überschwenglicher Mensch war. Sie gab sich ihr mit allen
Sinnen hin. Sie liebte Butte, sie liebte den Westen, sie liebte es, als junge
Frau eines Bergwerksingenieurs das Land zu durchstreifen, und vor allem liebte
sie Papa.
    Sie waren gesund und glücklich. Wenn
Papa sich auf die Suche nach neuen Erzvorkommen machte, wurde losgeritten, und
stundenlang ging es froh und unbekümmert durchs Salbeigesträuch. Von einer
wüsten und tollen Wildweststadt übersiedelten sie in die andere, immer gleich
gut gelaunt; sie kümmerten sich um keinen Arzt, und sie brauchten keinen Arzt
bis zu dem Tage, da meine Mutter schwanger wurde. Sie freute sich darüber,
obwohl sie nun gezwungen war, zu Hause zu bleiben, wenn Papa seine Streifzüge
machte. Sie weigerte sich, zur Entbindung nach New York zu reisen, aber um ihre
verzweifelte Familie zu trösten, nahm sie eine Ärztin, die in Philadelphia
studiert hatte und sich als Homöopathin entpuppte.
    Heutzutage wird die Homöopathie von den
richtigen Ärzten mit scheelen Augen betrachtet, aber meine Mutter hielt an der
Theorie simila similibus — ›Gleiches heilt Gleiches‹ — treulich fest und
brachte es immerhin fertig, fünf Kinder großzuziehen. Es muß eine recht
brauchbare Theorie gewesen sein, da wir alle am Leben und einigermaßen im
Besitz unserer fünf Sinne sind, Das könnte freilich auch darauf zurückzuführen
sein, daß für uns der Herr oder die Frau Doktor, ob homöopathisch oder
psychopathisch, eine Person war, die ins Haus kam, den Schnee von den Schuhen
stampfte und die Treppe hinaufging, um ein neues Baby in die Welt zu befördern.
    Da Papa keine feste Anstellung hatte,
sondern stets unterwegs sein mußte, um der sich nach dem Westen ausbreitenden
Bergwerksindustrie als Vorreiter und ›Wünschelrutengänger‹ zu dienen, waren wir
selten länger als sechs Monate an ein und demselben Ort ansässig. Daher hatten
wir keinen Hausarzt. Wurden wir krank, suchten wir uns einen passenden
Heilkünstler. Wenn Mutter in irgendeinem gottverlassenen Winkel mit uns allein
war und in ihrem abgegriffenen Arzneibuch kein brauchbares Mittelchen finden
konnte, gab sie uns, wenn wir grün aussahen, reichliche Dosen Calomel, und wenn
wir Fieber hatten, ab und zu etwas Akonit, ein Überbleibsel aus der
homöopathischen Zeit. Ansonsten tat sie dasselbe, was heutzutage die
hervorragendsten Spezialisten tun: Sie überließ es der Natur, das Übel so
schnell wie möglich zu kurieren.
    Wenn es sich hie und da einmal als
notwendig erwies, in einer fremden Stadt einen Arzt aufzutreiben, benützte
meine Mutter eine Technik, die ich immer noch für ausgezeichnet halte. Sie rief
das größte Krankenhaus an, nannte den Namen der Krankheit oder
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