Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Setz dich über alles weg

Setz dich über alles weg

Titel: Setz dich über alles weg
Autoren: Mary Bard
Vom Netzwerk:
finsterblickender und
niedergeschlagener Patienten, die mit düsterer Miene an der Wand lehnten, auf
Stühlen herumsaßen oder am Fenster standen und melancholisch in den öden Regen
hinausblickten. Der scharfe Geruch von Desinfektionsmitteln vermischte sich
unbehaglich mit dem Gummidunst nasser Regenmäntel.
    Da ich ungefähr wußte, wie beschäftigt
der Herr Doktor war, und ganz genau wußte, wie beschäftigt ich war, nannte ich
der seelenruhigen Empfangsschwester meinen Namen und teilte ihr mit, ich müsse
um dreiviertel sechs wieder in meinem Büro sein.
    Sie füllte eine Karteikarte aus, schob
ihr Häubchen zurecht und sagte: »Der Herr Doktor ist heute verspätet. Es wird
aber bestimmt nicht lange dauern. Nehmen Sie bitte Platz, bis Sie gerufen
werden.«
    Alle sechs Sekunden sah ich auf meine
Uhr, stampfte mit dem Fuß auf, hüstelte und musterte die Schwester mit
hypnotischen Blicken. Mochte es auch allen anderen Spaß machen, ihre Zeit zwischen
den vier Wänden eines Wartezimmers zu verbringen — mir machte es keinen Spaß.
Und ich mußte ein Rundfunkmanuskript abschließen, bevor ich nach Hause gehen
durfte. Die Schwester ignorierte mich völlig und beschäftigte sich damit, in
herzlich sympathischem Ton den versammelten Patienten und den zudringlichen
Herrschaften am Telefon die tollsten Lügenmärchen aufzutischen. »Mrs. Morgan —
hier spricht Dr. Jays Empfangsschwester — der Herr Doktor wird heute abend ein
ganz klein wenig verspätet zum Essen erscheinen — oh, etwa gegen
halb sieben — er muß noch einen oder zwei Patienten empfangen, bevor er frei
ist.« Wir sahen einander an, und jeder hätte gerne gewußt, wer die beiden
Glücklichen sein würden, und was man mit den übrigen zu tun gedenke.
    Ein
Herr öffnete die Tür, ging mit forschen Schritten zum Empfangstisch und sagte
mit der tiefen Stimme eines vielbeschäftigten Generaldirektors: »Mr. Jones —
Nordwest-Stahl.«
    Die
Schwester blickte mit einem zerstreuten Lächeln zu ihm auf. »Bitte eintreten,
Mr. Jones! Der Herr Doktor erwartet Sie.«
    Mr.
Jones war fünfzehn Minuten nach mir und zwischen zehn Minuten bis zwei Wochen
nach den anderen wartenden Patienten erschienen. Eine so nonchalante Art, seine
Kunden zu behandeln, hatte ich als Reklamemensch noch nicht erlebt. Alle diese
Leute waren angemeldet, und da kam Herr Jones und wurde aus unerklärlichen
Gründen früher drangenommen. Dr. Jim Jay durfte sich glücklich schätzen, wenn
nicht sämtliche anwesenden Patienten zumindest potentiell auf sein Verlustkonto
zu setzen sein würden.
    ›Anmeldung überflüssig!‹ lautete die
Anfangszeile aller meiner Werbesendungen für den Zahnarzt, der zu meinem
Ressort gehörte — seine Klinik verarztete täglich Hunderte von Leuten, und
keiner brauchte länger als fünf Minuten zu warten. Dieser Herr Doktor und seine
Empfangsschwester hätten eine kleine Unterweisung in den Anfangsgründen des
sogenannten Kundendienstes nötig gehabt. Ich habe später erfahren, daß die
Schwester trotz meiner Vermutungen keineswegs parteiisch gehandelt hatte, und daß
Mr. Jones nicht seiner Stellung wegen bevorzugt worden war: Es handelte
    sich um einen dringenden Fall, und
seine Firma hatte ihn hingeschickt. Heute weiß ich auch, daß ›Kundendienst‹ für
Ärzte ein unbekannter Begriff ist.
    Aus allen Ecken ließ sich ein gereiztes
Hüsteln und dumpfes Murren vernehmen. Ich sagte mir, wenn ich besonders krank
aussähe, würde man mich vielleicht früher drannehmen, schon aus Gründen der
Hygiene. Ich schneuzte mich, gab drei tiefe erbärmliche Huster von mir, stützte
den Kopf in die Hände und lugte zwischen den Fingern zu der Schwester hin, um
zu sehen, wie sie reagierte.
    Sie hob bloß den Hörer ab und sagte:
»Aber gewiß, Mrs. Talbot, der Herr Doktor ist fast fertig, Sie können kommen,
wann Sie wollen — wir hatten zwar den ganzen Tag über ein bißchen viel zu tun,
aber die meisten Patienten sind schon gegangen — oh, in etwa zehn Minuten!«
Wieder lief ein unbehagliches Rascheln durch die Schar der armen Sünder.
    Die Frau, die gleich neben mir auf
einem niedrigen Schemel hockte, stieß einen Seufzer aus. Ich. wandte mich zu
ihr. »Um dreiviertel sechs muß ich im Büro sein, und jetzt ist es schon fünf
nach halb.« Sie zuckte die eine Achsel. »Ich bin nicht zum erstenmal hier — ich
habe mir gleich den ganzen Nachmittag freigenommen.« Die ›Gewohnheits‹-Patientin.
Aber durch eine gutgeführte Propaganda lassen sich solche üblen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher