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Setz dich über alles weg

Setz dich über alles weg

Titel: Setz dich über alles weg
Autoren: Mary Bard
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Gewohnheiten
vermeiden. Hatte denn nicht mein Zahnarzt seine umfangreiche Praxis auf dieser
Voraussetzung aufgebaut?
    Die Frau neben mir begann leise zu
stöhnen und ihre Sachen zusammenzusuchen. Sie fing an schwach zu werden — zum
Unterschied von mir: Ich war entschlossen, dem Herrn Doktor Aug in Aug
gegenüberzutreten, sei es auch nur, um ihm ein paar kluge Witze zu erzählen und
ihn darauf aufmerksam zu machen, daß die Möblierung unmöglich sei. Ein riesiger
Rolladenschreibtisch mit vielen Fächern nahm ein gutes Drittel des Wartezimmers
ein. Nasse Regenschirme standen in einem offenen Ständer neben der Tür und
hinterließen kleine Tümpel auf dem Linoleum. Die Reihe der Korbstühle wurde
durch einen rotsamtenen Sessel, einen Schemel und ein Korbsofa unterbrochen;
auf diesem saßen zwei Patienten und beäugten einander argwöhnisch. Eine
Stehlampe mit einem Fuß, dick wie ein Laternenpfahl, trug einen kleinen, mit
einem körnigen Perlstoff überzogenen Schirm, der in dreierlei Altgoldnuancen
schimmerte.
    Mich überlief ein kalter Schauer. Nicht
nur, daß dieser Repräsentant der Arzneikunde nicht wußte, was Blickfang ist, er
kümmerte sich auch keinen Pfifferling um die Bequemlichkeit seiner Patienten.
Ich hätte ihm gerne die Hauptsprechzimmer der Zahnärztlichen Familienklinik
Foley gezeigt. Von dem in der Decke des Wartezimmers eingebauten Lautsprecher
an, der zwischen neun und sechs halbklassische Musik spielt, bis zu dem
kleinsten Gardinchen ist die ganze Atmosphäre ein reklametechnisches
Meisterwerk. Die türkisblauen Wände und die Decke sind mit Glasziegelbändern
durchzogen, hinter denen verborgene Lampen schimmern. Die Fußböden sind ganz
mit honiggelbem Velours ausgelegt, üppig wie Pampasgras. Die Empfangsdamen, die
Schwestern und die Assistentinnen tragen türkisblaue Trachten und blondes Haar.
    Vielleicht konnte Dr. Jay sich’s nicht
leisten, mit einem so umfangreichen Apparat zu beginnen, aber es würde
interessant sein, ihm ein paar einfache Tatsachen über den Umgang mit dem
zahlenden Publikum vor Augen zu führen. Im Geiste fing ich an, erst einmal die
gesamte Einrichtung des Zimmers einschließlich Empfangsschwester abzuschaffen,
den Fußboden mit hellgrauen Teppichen auszulegen, indirekte Beleuchtung zu
installieren und einige bequeme Doppelsofas in gedämpften Pastelltönen
hinzustellen: das ganze Dekor um ein einziges gutes Gemälde und nicht um ein
halbes Dutzend eingerahmter Diplome gruppiert...
    Die Schwester sagte: »Miss Bard, der Herr
Doktor läßt bitten!«
    Der Korridor zu seinem Sprechzimmer war
kahl und nüchtern — braungesprenkeltes Linoleum, einförmige weißgetünchte Wände
und eine große Waage. Als ich eintrat, saß der Herr Doktor schreibend an seinem
Schreibtisch. Eine glatte blonde Haarsträhne hing ihm in die Stirn und verlieh
ihm ein anziehend jugendliches Aussehen. Ohne aufzublicken, murmelte er: »Bitte
nehmen Sie Platz!« und fuhr fort, die leeren Stellen auf einer Karteikarte mit
Hieroglyphen zu bekritzeln. Über seinem Kopfe hing ein Motto an der Wand:
     
    ›Freude,
Mäßigkeit und Ruh’
    Machen
dem Arzt die Tür vor der Nase zu.‹
     
    Ich klatschte meine Aktentasche auf
eine Ecke des Schreibtisches, setzte mich und fing an: »Ich habe ungefähr drei
Stunden gewartet, bis ich drankam und — «
    »Was fehlt uns denn?« Seine Stimme
klang tief und gelassen, während er die Karte sorgfältig in eine Mappe schob.
    »Ich habe Grippe — habe vorige Woche
drei Tage gelegen — Musikautomaten kreischen an allen Ecken und Enden, alle
drei Sekunden plärrt ein Ansager meine Reklameslogans aus dem Lautsprecher, ich
gebe Millionen aus, um für eine total uninteressierte Fährbootreederei
Propaganda zu machen — das alles muß ich so gut wie allein schaffen — so daß
ich keine Zeit habe, um Atem zu schöpfen, geschweige denn im Bett zu liegen —
kommen Sie mir also nicht mit solchen Vorschlägen! Aber ich kann Ihnen ein paar
Tips für die Einrichtung Ihrer Praxis geben — «
    Er blickte auf. Seine Augen saßen weit
auseinander und waren blau. Dann lächelte er — ein stilles strahlendes Lächeln,
das sein Gesicht und meinem Gefühl nach auch das ganze Sprechzimmer erhellte.
Im Nu sagte ich, ohne mich auch nur umzuschauen, Adieu der ganzen Werbebranche,
dem Kundendienst und der Rundfunkpropaganda und drückte das Banner der Medizin
an meine Brust.
    Als ich abends nach Hause kam, teilte
ich meinen Angehörigen mit, ich gedächte einen Arzt zu heiraten, der
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