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Meinen Sohn bekommt ihr nie

Titel: Meinen Sohn bekommt ihr nie
Autoren: Isabelle Neulinger
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eines Bankkontos sein, um ein Bankkonto zu eröffnen, brauche ich einen Identitätsausweis, und um mich bei einer Krankenkasse anzumelden, muss ich einen Identitätsausweis und ein Bankkonto vorweisen können.
    Ich benötige volle zehn Tage, um ein Bankkonto zu eröffnen, mindestens zehn Gänge zur hiesigen Bank und ungefähr achtzehn Anrufe bei meiner Schweizer Bank. Erschrocken stelle ich fest, dass hier nahezu alle auf Kredit leben und ein überzogenes Konto nicht nur normal ist, sondern von den im gnadenlosen Konkurrenzkampf stehenden Banken geradezu gefördert wird. Man wählt die Bank aus, die einem den besten Zinssatz bietet… auf das Kontodefizit, das normalerweise zwischen einem und anderthalb Monatsgehältern beträgt. Zuerst wird gekauft und erst dann überlegt, woher man das Geld dafür eigentlich nimmt.
    Ich entschließe mich, mir ein Handy zuzulegen, um so die weiteren Schritte besser in Angriff nehmen zu können und nicht vor der einzigen dauerbelagerten Telefonzelle des Zentrums Schlange stehen zu müssen. Doch wieder dasselbe Spiel: Möchte man ein Telefon kaufen, muss man einen Vertrag mit einem Telefonanbieter vorlegen, um einen Vertrag mit einem Anbieter abzuschließen, braucht man eine israelische Kreditkarte, um an eine Kreditkarte zu kommen, muss man über ein Bankkonto verfügen, doch um ein Bankkonto zu eröffnen, braucht man einen Identitätsausweis. Nach wenigen Tagen dieses bürokratischen Spießrutenlaufs stehe ich kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Ich überlege mir ernsthaft, den nächsten Flieger zurück nach Genf zu nehmen. Würden die Integrationsämter es darauf anlegen, die Einwanderer zu vergraulen, sie könnten es nicht besser machen.
    Auch die Beamten in den Ministerien und Regierungsbehörden sind alles andere als liebenswürdig und können in der Regel weder Englisch noch Französisch, sondern reden hartnäckig entweder auf Hebräisch oder, meiner blonden Haare wegen, auf Russisch auf mich ein. Während der siebziger Jahre und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kamen nämlich viele Russen ins Land. Das würde auch erklären, weshalb ich mir wie in einem Dokumentarfilm über den Kalten Krieg oder wie das Opfer einer Kaderverschwörung in der ehemaligen Sowjetunion vorkomme, sobald ich eine Amtsstube betrete.
    Am Telefon habe ich nicht mehr Glück. Die öffentlichen Verwaltungen sind ausschließlich über Anrufbeantworter erreichbar, und die sind entweder auf Hebräisch, Russisch oder Arabisch besprochen, was für jemanden, der keine dieser Sprachen beherrscht, keine große Hilfe ist. Eine Rolle spielt das im Übrigen kaum, da ohnehin nie jemand zurückruft.
    Die Expeditionen zu den regionalen Dienststellen des Innenministeriums, wo Pässe und Ausweise ausgestellt werden, kommen einem Nationalsport gleich. Fast könnte man sich an öffentlichen Treffpunkten wähnen, gemessen an der Zeit, die man dort verbringt. Einen Tag muss man mindestens einplanen, dazu die nötige Lektüre, Essensvorräte, Wasser und Toilettenpapier. Und man sollte früh aufstehen, weil die Ämter beim ersten Morgengrauen bestürmt werden und Schlag zwölf die Türen schließen. Wenn man es nicht schafft, bis zu diesem Zeitpunkt im Gebäudeinneren zu sein, bleibt einem nichts anderes übrig, als am nächsten Tag sein Glück erneut zu versuchen.
    Das Ziehen einer Nummer am Eingang wird zum automatischen Handgriff. Danach gilt es, ein nettes Plätzchen zu finden und zu warten, bis man aufgerufen wird. Keinesfalls sollte man dem Impuls folgen, einen Kaffee holen zu gehen oder ein Nickerchen zu machen, denn dass einen jemand weckt, wenn die Nummer auf dem digitalen Bildschirm erscheint, ist völlig ausgeschlossen, und verpasst man den entscheidenden Moment, dann hat man eben Pech gehabt.
    Ich lerne schnell, dass man an diesen Orten nur durch lautes Rufen, am besten auf Hebräisch, weiterkommt, dass man die Ellbogen einsetzt und vor allen Dingen die guten Manieren vergisst, die einem die Mutter eingetrichtert hat. Der israelische Beamte ist bekanntermaßen ungeduldig, laut und mürrisch. Privat kann er die Liebenswürdigkeit in Person sein, aber in der Öffentlichkeit: Fehlanzeige. Man muss an einer Bushaltestelle, in der Bank, auf der Post oder im Supermarkt Schlange gestanden haben, um den Sinn des Wortes «Chutzpah», das im Jiddischen so viel
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