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Meinen Sohn bekommt ihr nie

Titel: Meinen Sohn bekommt ihr nie
Autoren: Isabelle Neulinger
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schlicht «Einwanderer» sind.
    Die Beauftragte erklärt mir, dass die israelische Regierung den neuen Immigranten eine Reihe von Vorzügen gewährt, das sogenannte «Integrationspaket». Darin enthalten sind beispielsweise Wohngeld, eine kostenlose Krankenversicherung für die ersten sechs Monate, die Befreiung von der Einkommenssteuer und das Angebot, Elektrogeräte und Autos steuerfrei zu erwerben. Für Menschen, die sich an ein neues Leben gewöhnen, Hebräisch lernen, Unterkunft und Arbeit finden und sich in eine fremde Gesellschaft und Kultur eingliedern müssen, sind diese Vergünstigungen viel wert.
    Zusätzlich gewährt der Staat Einwanderern aus benachteiligten Ländern eine finanzielle Unterstützung, deren Höhe vom jeweiligen Herkunftsland abhängt. Da die Schweiz nicht zu den benachteiligten Ländern gehört, steht mir diese Hilfe nicht zu, aber das ist mir gleich. Ich habe Geld gespart und möchte ohnehin schnell eine Beschäftigung finden.
    Weil ich in Israel keine Unterkunft habe, entschließe ich mich, die ersten Monate im Merkaz Klita, einem Eingliederungszentrum, zu überbrücken, wo mir die Agency ein Zimmer reserviert. Für eine bescheidene Miete kann ich hier bis zu einem Jahr bleiben. Diese Zentren, die übers ganze Land verteilt sind und von der Agency und dem Ministerium für Integration geleitet werden, sollen den Einwanderern das Ankommen und Einleben in der neuen Heimat erleichtern. Der Standard ist einfach, und ganz gleich, ob man aus der Schweiz, aus Russland oder Äthiopien kommt, jeden erwartet dasselbe Programm: Am Morgen wird im Ulpan, der Hebräischschule, die neue Sprache gelernt, der Nachmittag steht für die Arbeits- und Wohnungssuche zur Verfügung.
    Ich werde dem Zentrum in Ra’anana zugeteilt, einer kleinen wohlhabenden Stadt zwanzig Kilometer nördlich von Tel Aviv, die viele Einwanderer aufnimmt. Ein glücklicher Zufall will es, dass eine Cousine meiner Mutter auch in Ra’anana und zudem ganz in der Nähe des Wohnheims lebt. Sie wird mir in meiner Anfangszeit in Israel unter die Arme greifen und alles tun, um mir das Ankommen zu erleichtern. Ich werte es als gutes Omen.

    Ein paar Wochen später bekomme ich vom israelischen Konsulat meinen Schweizer Pass mit dem offiziellen Einreisestempel zurück. Vor Freude mache ich einen Luftsprung.
    Der Sommer des Jahres 1999 ist in der Schweiz warm und schön. Heiter gestimmt bereite ich meinen Abschied vor. Ich habe einige Flaschen guten Wein im Keller und nutze das herrliche Wetter, um die Vorräte bei gemeinsamen Abendessen mit Freunden aufzubrauchen. Ich organisiere improvisierte Trödelstände und verschachere meine Skianzüge und die warmen Kleider, die ich unter der Sonne Israels nicht mehr brauchen werde. Ich gebe Möbel, Teppiche, Nippes, einfach alles weg. Meine Freunde und ich lassen kein Konzert und kein Musikfestival aus, auch nicht mein geliebtes Jazzfestival in Montreux. Es ist ein wunderbarer, unvergesslicher Sommer. Ein Sommer der Freundschaft.
    In drei Monaten ist alles unter Dach und Fach. Mietvertrag und Versicherungen sind gekündigt, Rechnungen beglichen, Steuern bezahlt. Ich besorge mir die Papiere, die ich bei meiner Ankunft in Israel brauchen werde, lasse sie notariell beglaubigen und zum Teil ins Hebräische und Englische übersetzen.

    Im September reise ich zum Neujahrsfest Rosch ha-Schana nochmals nach Israel, um mir ein Bild von allem zu machen. Bei dieser Gelegenheit treffe ich auch meine Großtante Flor in Tel Aviv und Freunde der Familie in Haifa, ganz im Norden. Mehr denn je habe ich die Gewissheit, das Richtige zu tun.
    Ende September verabschiede ich mich von meinen Arbeitskollegen. Am 10. Oktober fliege ich nach Tel Aviv, meine ganze Familie bringt mich zum Flughafen. Wir treffen früh ein, da sich die Sicherheitskontrollen bei Flügen nach Israel endlos lange hinziehen. Meine Eltern können ihre Tränen kaum zurückzuhalten. Mir geht es wie ihnen, aber ich lasse mir nichts anmerken. Die israelische Fluggesellschaft El Al gesteht mir aufgrund von Übereinkommen mit der Agency achtzig Kilogramm Gepäck zu. Ich habe mich von Hab und Gut getrennt, mein ganzes Leben passt in sechs Koffer. Ich reise ohne großen Ballast.

Ra’anana
    Mein Flieger landet am späten Nachmittag auf dem internationalen Flughafen Ben Gurion. Es regnet, der Herbst kündigt sich an, und der Himmel
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