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Meinen Sohn bekommt ihr nie

Titel: Meinen Sohn bekommt ihr nie
Autoren: Isabelle Neulinger
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wie Dreistigkeit bedeutet, wirklich zu begreifen.
    Der Durchschnittsisraeli würde einem ganz ungeniert auf die Füße treten, um sich beim Anstehen vorzudrängeln, wäre aber der Erste, der einen einlädt, den Sabbat, Neujahr, Ostern, den Unabhängigkeitstag oder jedes andere Fest, an dem man unmöglich allein bleiben darf, mit ihm zu verbringen.
    In Rekordzeit eigne ich mir die wichtigsten Verwaltungsbegriffe an:
    Balagan: Tohuwabohu.
    Savlanut: Geduld. Ein Fremdwort für Sabras, in Israel geborene Israelis.
    Kombina: taktische List. Ein Mittel, mit dem man mehr oder weniger legal ans Ziel kommt.
    Protektzia: gute Beziehungen.
    Und vor allem «Ihye beseder»: Das wird schon.
    Neben Acamol, dem in Israel hergestellten Paracetamol, ist die Wendung «Ihye beseder» die am häufigsten gebrauchte Medizin, die wirksamste Waffe in jeder Lebenslage, selbst in der aussichtslosesten. Du findest keine Arbeit? Das wird schon. Man hat dich bestohlen? Das wird schon. Saddam Hussein plant einen Raketenangriff? Das wird schon…
    Zum Glück gibt es Esther, die Französisch spricht. Bei ihr kann ich meine Wäsche waschen, bekomme Trost und kleine Aufmunterungen. Sie leiht mir Geschirr, Dinge für den Haushalt, ein paar Möbel, damit ich mich behelfsmäßig einrichten kann. Ihr Mann, ein Taxifahrer, bringt mich netterweise zu den Behörden, die vom Heim zu weit entfernt sind, um sie mit dem Bus zu erreichen.
    In dieser Zeit besuchen mich auch meine Verwandten aus Jerusalem. Ayala, die Enkelin meiner Großtante Flor, ist Juwelierin und ihr Mann David ein Archäologe, der Kunstwerke für das Israelische Museum in Jerusalem restauriert, das weltweit zu den wichtigsten Kunst- und Archäologiemuseen zählt und die größte Zahl archäologischer Fundstücke aus dem Heiligen Land besitzt, darunter die berühmten Schriftrollen vom Toten Meer.
    Ich habe meine Großcousinen das letzte Mal gesehen, als ich ein Teenager war und sie uns in Belgien besuchen kamen. Hier in Israel lerne ich sie als herzliche und hinreißende Menschen kennen, die mir helfen, mich hier immer wohler zu fühlen. Auch sie steuern allerhand zu meiner Einrichtung bei, so dass es bei mir endlich wohnlich wird.

    Drei Tage nach meiner Ankunft entdecke ich unten am schwarzen Brett eine Stellenausschreibung: Eine Bürohilfe mit Englischkenntnissen wird gesucht. Warum nicht den Versuch wagen? Ich rufe an, sage, wer ich bin, und kann mich tatsächlich gleich am nächsten Tag vorstellen. Die Firma ist in Herzliya, einem Nachbarort von Ra’anana, benannt nach Theodor Herzl, dem Begründer des modernen Zionismus. Ich habe Glück. Wir sind uns auf Anhieb sympathisch, meine Fähigkeiten scheinen zu passen, und am Ende des Gesprächs stellt mich der Direktor prompt ein. So komme ich, kaum im Land, an meinen ersten Job, was mich glücklich und auch etwas stolz macht. Morgens besuche ich den Hebräischunterricht, der inzwischen begonnen hat, und am Nachmittag fahre ich mit dem Bus nach Herzliya und arbeite im Sekretariat einer Firma, die amerikanische Schusswaffen vertreibt.
    Der Chef und seine Frau, die auch im Betrieb mitarbeitet, sind sehr liebenswürdig, und ich bekomme ein anständiges Gehalt, kann im Berufsleben Fuß fassen und muss meine Ersparnisse nicht anbrechen.
    Sicherheit geht hier über alles. Schnell gewöhne ich mich an die Metalldetektoren und die permanenten Handtaschenkontrollen. Ich wundere mich nicht mehr, wenn man mich beim Betreten eines öffentlichen Gebäudes fragt, ob ich eine Waffe bei mir trage, und lerne wie alle andern, misstrauisch zu werden, wenn ich eine herrenlose Tasche oder verdächtige Gegenstände ausmache, die sich als potenzielle Bomben herausstellen können. Dagegen brauche ich eine Weile, bis ich den Sonntag als Werktag verinnerlicht habe. In Israel beginnt das Wochenende am Donnerstagabend und endet mit dem Sabbat Samstagnacht. Auch sind Weihnachten und Silvester ganz normale Tage. Und Hebräisch wird von rechts nach links gelesen… Jede Menge Neuerungen auf einmal.

    Nun lerne ich auch meine Mitbewohnerin Betsy kennen, eine zauberhafte Frau aus Argentinien, die mit ihrer betagten Mutter und dem halbwüchsigen Sohn hergekommen ist. Eigentlich wohnen die drei in Haifa, doch Betsy besucht unter der Woche den Hebräischunterricht hier im Haus und verbringt das Wochenende bei ihrer Familie im Norden. Ich arbeite oft am
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