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Meinen Sohn bekommt ihr nie

Titel: Meinen Sohn bekommt ihr nie
Autoren: Isabelle Neulinger
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wirkt mit seinen leuchtenden Farben geradezu biblisch, was in gewisser Hinsicht meinen Gemütszustand spiegelt. Während ich auf mein Gepäck warte, muss ich an all die Einwanderer denken, die vor mir hier angekommen sind, die denselben Weg zurückgelegt, das Gleiche empfunden haben. Das Gefühl ist schwer zu beschreiben: Die Herausforderung eines neuen Lebens, ein Zugehörigkeitsbedürfnis, aber auch die Gewissheit, am richtigen Ort zu sein – dies alles schwingt mit.
    In Genf hat mich die Beauftrage der Jewish Agency angewiesen, nach meiner Ankunft das örtliche Büro des Ministeriums für Integration aufzusuchen, das sich im ersten Stock des Flughafens befindet. Dort werden die ersten Einreiseformalitäten erledigt. Feierlich überreicht mir der Beamte meinen Immigrantenausweis, den magischen Türöffner für alle administrativen Angelegenheiten. Man deckt mich auch mit Formularen ein, die ich brauche, um ein Bankkonto eröffnen und mich bei der Sozial- und der Krankenversicherung anmelden zu können, und überreicht mir, last but not least, meine nationale Identitätsnummer, die mich mein Leben lang verfolgen wird. Zusammen mit dem Immigrantenausweis begründet sie meine israelische Staatsangehörigkeit und dient als vorläufiger Identitätsausweis, bis mir der richtige vom Innenministerium ausgestellt wird. Jetzt bin ich also israelische Staatsbürgerin, komme, was da wolle.
    Ãœber die ganze Anmeldeprozedur ist es Nacht geworden. Ich sammle meine Gepäckstücke zusammen und gehe durch den Zoll und die Passkontrolle. Als Einwanderin steht es mir zu, umsonst vom Flughafen zu meiner Unterkunft gebracht zu werden. Doch während mich das Taxi nach Ra’anana fährt, werde ich große Abenteurerin immer kleiner… Der Fahrer lädt mich und meine sechs Koffer beim Eingliederungszentrum ab.
    Dort wartet Esther, die Cousine meiner Mutter, schon seit Stunden auf mich. Zu dieser späten Uhrzeit ist das Sekretariat bereits geschlossen, so kann ich mich erst am nächsten Tag anmelden. Esther begleitet mich auf mein Zimmer im dritten Stock. Ich sehe, dass der Flur und die Tür mit bunten Luftballons und Willkommensbändern geschmückt sind: Esther und ihre zwei Töchter haben mir diesen Empfang bereitet. Vor Rührung muss ich weinen. Ich fühle mich etwas verloren, der Tag war lang, die Müdigkeit macht sich bemerkbar. Esther nimmt mich mit zu sich nach Hause und stellt mir ihren Mann und die Kinder vor. Nach dem Abendessen fährt sie mich zurück ins Heim, wo ich erschöpft aufs Bett sinke und, ohne von meiner Umgebung groß Notiz zu nehmen, sofort einschlafe.
    Am nächsten Morgen stelle ich fest, dass die Frau von der Agency nicht gelogen hat: Der Standard hier ist tatsächlich einfach. Die Wohneinheit, die mir zugeteilt wurde, besteht aus zwei Zimmern, notdürftig möbliert mit einem schmalen Bett, einem Stuhl, einem Regal und einem kleinen Schreibtisch. Dazu kommen eine Duschkabine und eine Küche, in der ein Kühlschrank steht. Alles ist alt, abgenutzt und sehr schmutzig. Der Kühlschrank muss aus den fünfziger Jahren stammen, aber zumindest funktioniert er, wenn man es schafft, die Tür mithilfe eines Stuhls zu schließen. Nur ist es der einzige Stuhl, den ich habe…
    Einige Wohnungen des Zentrums wurden renoviert, hieß es, nur gehört meine offensichtlich nicht dazu. Ich weiß nicht, wo anfangen, es fehlt am Allernötigsten. Vor allem brauche ich Putzmittel und Eimer, um gründlich saubermachen zu können, bevor ich beginne, mich hier einzurichten. Anstatt mir weiter den Kopf zu zerbrechen, nehme ich erst einmal eine Dusche. Das Wasser ist warm – was nicht immer der Fall sein wird –, und ganz in Gedanken versunken bemerke ich nicht, wie der Pegel immer höher steigt. Als ich die Kabine verlasse, stehe ich bis zu den Knöcheln im Wasser: Der Abfluss ist total verstopft. Die Koffer im Schlafzimmer schwimmen, und von der Tür über den Flur bis zur Treppe hat sich ein kleiner Fluss gebildet.
    Selbstverständlich habe ich nichts, womit ich die Überschwemmung beseitigen könnte. Mir dämmert, dass ich den Aufenthalt hier sportlich nehmen muss. Einige meiner Sachen sind nicht mehr zu retten, doch wenigstens sind die Papiere noch heil. So gut es geht, breite ich alles um mich herum zum Trocknen aus und gehe dann runter zum Empfang, um Hilfe zu holen. Ich platze ins
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