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Meinen Sohn bekommt ihr nie

Titel: Meinen Sohn bekommt ihr nie
Autoren: Isabelle Neulinger
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Land

Ein Kind der ganzen Welt
    Nie habe ich mich in erster Linie als Belgierin gefühlt und auch nicht als Schweizerin oder Israelin, sondern als ein Kind der ganzen Welt, einer Welt, die ich durch meine Eltern sehr früh kennengelernt habe. Ich wurde in Belgien geboren und wuchs südlich von Brüssel auf, in Watermael-Boitsfort, einer der kleinsten von insgesamt neunzehn Gemeinden, die die Hauptstadt Europas bilden. Ich bin Jüdin, mit polnischen Wurzeln von meiner Mutter und österreichischen von meinem Vater. Meine beiden Großväter Isaac und Philippe waren Diamantenschleifer im flämischen Antwerpen. Die beiden waren eng befreundet, und ihre Kinder – mein Vater und meine Mutter – spielten häufig miteinander.
    Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, trennten sich ihre Wege. Nach dem Einmarsch der Nazis in Belgien mussten sie mit ihren Familien fliehen und nahmen das einzige Tauschmittel mit, das ihnen blieb: ihre kleinen geschliffenen Diamanten. Sie brauchten nur ein gutes Versteck.
    Isaac, der Vater meiner Mutter, ließ seine Steine in einer leeren Konservenbüchse verschwinden, deren Deckel er wieder anschweißte. Die fünfköpfige Familie machte in Paris Halt und kam in einem Stundenhotel unter. Eines Nachts, als sie alle eng zusammengepfercht in ihrem kleinen Zimmer lagen, wurden sie von einem lauten Knall aus dem Schlaf gerissen. Die schlecht verschweißte Dose war explodiert und hatte die Diamanten über den ganzen Boden und die mit rotem Samt bezogenen Wände verteilt. Meine Mutter erzählte mir, wie sie und ihre Schwester drei Tage lang auf allen vieren herumgerutscht waren, um die Steinchen, die kaum größer als Stecknadelköpfe waren, in mühseliger Kleinstarbeit mit Pinzetten wieder einzusammeln.
    Philippe, mein Großvater väterlicherseits, hatte seine Diamanten in einem Sack Reis versteckt. Bei dem Versuch, mit falschen Papieren über die Grenze nach Spanien einzureisen, erklärten ihm die Zöllner jedoch, dass die Einfuhr von Lebensmitteln nicht erlaubt sei und er den Reissack abgeben müsse. Eine List musste her… Mein Großvater gab vor, seinen Pass vergessen zu haben, machte vor dem verblüfften Zollbeamten auf dem Absatz kehrt und suchte einen sicheren Ort auf, um die Diamanten aus dem Sack zu klauben. Danach konnten er und seine Familie die Grenze ohne weitere Zwischenfälle überqueren – den Reis ließen sie zurück. Wo er die Diamanten diesmal versteckt hat, haben wir nie erfahren.
    Nach ihrem Aufenthalt in Paris zog die Familie meiner Mutter weiter nach Südfrankreich, um von dort in die Vereinigten Staaten zu gelangen, die inzwischen in den Krieg eingetreten waren. Mein Großvater brachte sie – ebenfalls mit gefälschten Papieren – an Bord eines Schiffs, das von Spanien übersetzte. Es war das letzte, das in Kuba unter General Batista anlegen durfte. Dort blieben sie bis zum Kriegsende.
    Die Familie meines Vaters verschlug es nach Portugal. Mein Vater Philip wurde Jagdpilot und verpflichtete sich bei der Royal Air Force, wo er unter belgischem Kommando eine der legendären Spitfire-Maschinen flog. Später sollte er in der zivilen Luftfahrt Karriere machen und Flugkapitän bei der Sabena werden, der damaligen staatlichen Airline Belgiens. Er war es, der meiner Schwester und mir die Lust am Reisen und das Interesse für fremde Kulturen mitgegeben hat.
    Die zahlreichen Brüder und Schwestern meiner Großeltern hatten nicht so viel Glück: Fast alle wurden von den Nazis deportiert und umgebracht.

    Nach dem Krieg erhielten meine Großväter Visa für die Vereinigten Staaten, und beide ließen sich in New York nieder, ohne voneinander zu wissen.
    Eines Tages spazierte mein Vater, frisch aus dem Kriegsdienst entlassen, in seiner stattlichen, mit Orden schwer behängten Uniform der Royal Air Force an der Seite seines Vaters die vornehme Fifth Avenue entlang. Der Zufall wollte es, dass ihnen genau in diesem Moment mein Großvater Isaac in Begleitung seiner Tochter Stella entgegenkam. Philippe und Isaac, die sich seit ihrer Abreise aus Antwerpen nicht mehr gesehen hatten, fielen sich in die Arme. Mein Vater verfiel augenblicklich Stella, seiner Spielkameradin aus Vorkriegszeiten. «Papa, dieses Mädchen werde ich heiraten», rief er seinem Vater zu.
    Erst da erzählte ihm mein Großvater von der Abmachung, die er mit Isaac in Flandern getroffen hatte. Isaac war
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