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Meinen Sohn bekommt ihr nie

Titel: Meinen Sohn bekommt ihr nie
Autoren: Isabelle Neulinger
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Schweiz
    Das Rückkehrgesetz von 1950, nach dem jeder Jude sowie sein Ehepartner, seine Kinder und Enkelkinder das Recht haben, in Israel zu leben, ist mir bekannt, und dieses Recht erscheint mir schon bald wie eine positive Pflicht. Ich werde also meine Alija machen, was auf Hebräisch so viel wie «Aufstieg» bedeutet.
    Von diesem Moment an laufen die Dinge wie von selbst.
    Zurück in der Schweiz, teile ich allen unverzüglich meinen Entschluss mit – und löse damit ein kleines Erdbeben aus. Niemand nimmt es ungerührt. Die einen ermutigen mich, die andern versuchen, mich davon abzubringen, indem sie das Gespenst des schwelenden israelisch-palästinensischen Konflikts heraufbeschwören. Letztere können oder wollen nicht verstehen, wie ich ein so sicheres, wohlhabendes und friedliches Land wie die Schweiz verlassen kann, um in einem Staat zu leben, der, Fortschrittlichkeit hin oder her, in einer Region liegt, deren politische Instabilität schon seit Jahrzehnten regelmäßig für Schlagzeilen sorgt.
    Lange bespreche ich meine Entscheidung mit meinen Eltern. Sie sind enorm aufgeregt, aber seit meinen Rebellenjahren wissen sie, dass sie keine Wahl haben. Also unterstützen sie mich in meiner Entscheidung und respektieren den Weg, den ich gewählt habe. In Gedanken ziehe ich Bilanz und komme zu dem Schluss, dass es für mich in der Schweiz nichts mehr zu tun gibt: Ich war hier glücklich, habe geheiratet, wurde Witwe. Ich habe Leid erfahren und gelernt, es zu überwinden. Nun ist es an der Zeit für einen Neuanfang.
    Gleich am ersten Arbeitstag nach den Ferien passe ich meinen Chef ab, um ihm mein verrücktes Vorhaben beizubringen und ihm im gleichen Zug meine Kündigung zu überreichen. Er kennt den Nahen Osten und Israel gut, da er mit einer koptischen Ägypterin verheiratet ist und lange Zeit in der Gegend gearbeitet hat. Seine Worte werden mir immer in Erinnerung bleiben: «Mein Mädchen, ich sehe, wie deine Augen leuchten. Geh nur, ich weiß, dass ich dich nicht aufhalten kann. Geh deinen Weg, du wirst sehen, dass man sich Gott dort unten näher fühlt, selbst wenn man nicht an ihn glaubt.» Er möchte mir sogar helfen, in Israel Arbeit zu finden.
    Mir ist leicht ums Herz. Ich bin überzeugt, dass ich in Israel ein neues Kapitel aufschlagen kann, nachdem das vergangene abgeschlossen ist. Ein neues Leben liegt vor mir. Angst habe ich nicht.

Olah, Einwanderungskandidatin
    Kurz bevor das neue Jahrtausend anbricht, ziehe ich einen Schlussstrich unter mein Leben in Lausanne.
    Ich besuche den Rabbi der israelitischen Gemeinde von Lausanne, der ich angehöre. Er bestärkt mich in meinem Vorhaben und gibt mir wertvolle Ratschläge. Er klärt mich darüber auf, dass ich vor meiner Einwanderung nach Israel zuallererst meine Herkunft beglaubigen, also meine jüdische Zugehörigkeit beweisen müsse, was weit mehr als eine reine Formsache sei. Ich soll dem Rabbi eine Kopie der Ketubba meiner Eltern besorgen. Doch wie komme ich an ihren Ehevertrag, wenn sie in New York geheiratet haben? Mit einem unguten Gefühl eile ich zu meiner Mutter. Zum Glück weiß sie sofort, wo sie die Ketubba abgelegt hat. Nun kann der Rabbi die nötigen Nachforschungen über meine Familie anstellen und mir schließlich den Nachweis aushändigen, dass ich Jüdin bin. Der Einwanderungsprozess kann beginnen.

    Ich stelle fest, dass die Einwanderung in Israel wie eine Staatsangelegenheit behandelt wird. Die Jewish Agency for Israel, auch Sochnut genannt, kümmert sich schon im Herkunftsland um die Vermittlung jüdischer Einwanderungskandidaten, der Olim. Sie entscheidet, ob man einreisen darf oder nicht. Auf Anraten des Rabbi lasse ich mir bei der Schaliach, der Beauftragten der Organisation in Genf, einen Termin geben. Sie legt für mich eine Einwanderungsakte an und erläutert mir das weitere Vorgehen. Die Schweizer Einwanderungswilligen sind nicht gerade zahlreich, wie mir sogleich bewusst wird.
    Mein Flug wird von der Agency bezahlt, ohne Rückflug, versteht sich, und die Agency wird auch ein Einreisevisum beim israelischen Konsulat beantragen. Weil ich mich zum ersten Mal in Israel niederlasse, habe ich den Status einer Olah Hadascha, einer Neueinwanderin. Dieser ist nicht zu verwechseln mit dem Status israelischer Staatsbürger, die im Ausland geboren wurden oder dort lange lebten und daher keine «Neueinwanderer», sondern
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