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Meinen Sohn bekommt ihr nie

Titel: Meinen Sohn bekommt ihr nie
Autoren: Isabelle Neulinger
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Sekretariat, und statt eines Grußworts verkünde ich, dass meine Dusche alles unter Wasser gesetzt habe. Unbeeindruckt heißt mich die Sekretärin willkommen. Die Probleme mit den Wasserleitungen seien ihnen bekannt, doch dies sei kein Grund zur Panik, es gebe ja Gaston. Gaston ist der Mann für alles, Klempner, Elektriker und Bastlergenie in einem. Und vor allem ist er so überlastet, dass ihn die Bewohner «Machar» nennen, was auf Hebräisch «morgen» bedeutet. Es werden zehn Tage vergehen, bis Machar meine Dusche repariert haben wird.
    Alleinstehende wohnen hier im Haus mit anderen zusammen. Auch ich muss meinen Behelfspalast mit einer mir unbekannten Frau teilen, die noch nicht eingetroffen ist.
    Unterdessen erkunde ich die Umgebung. Das Eingliederungszentrum ist ein großer Betonkomplex, bestehend aus mehreren Gebäuden, die um einen zentralen Bau angeordnet und durch Innenhöfe und Rasenflächen miteinander verbunden sind. In den einzelnen Gebäuden sind die Wohneinheiten, Unterrichtszimmer und Gemeinschaftsräume untergebracht. Auf der rechten Seite des Haupteingangs befinden sich ein Foyer mit Sitzgelegenheiten, das Sekretariat und ein PC-Raum, in dem drei Computerdinosaurier ihr Dasein fristen. Immerhin hat man hier die Chance, mit anderen Bewohnern ins Gespräch zu kommen. Auf der linken Seite sind die Waschküche, wo immer Hochbetrieb herrscht, eine Synagoge und ein Vortragsraum, in dem auch Feste gefeiert werden.
    Ãœber Eintönigkeit kann ich mich nicht beklagen. Die Hausbewohner kommen von überall her, aus Frankreich, England, den Vereinigten Staaten, Kanada, Australien, Südafrika, Argentinien und Kolumbien, darunter Junge, Rentner, Alleinstehende, Paare, Familien. Die Gründe, die uns hierhergeführt haben, mögen ganz unterschiedlicher Art sein: persönlich, ideologisch, wirtschaftlich, religiös oder politisch; ein jeder bringt sein Bündel mit, seine eigene Kultur. Doch sind wir alle ähnlich hilflos angesichts der gewaltigen Aufgabe, die uns hier erwartet: bei null anfangen, einen Neubeginn wagen.
    Meine Eltern hatten die Weitsichtigkeit, uns Kindern verschiedene Sprachen beizubringen, für mich das kostbarste Geschenk überhaupt. Neben Flämisch, das wir in der Schule lernen mussten, spreche ich fließend Französisch, Englisch und Spanisch, und ich verstehe Jiddisch. So kann ich mich mit den meisten Bewohnern des Zentrums unterhalten. Ich schließe Freundschaft mit Jacobo, der kurz vor mir eingetroffen ist. Er kommt aus Kolumbien, ist Ingenieur und kann sich mit seinem ganz besonderen und unerschütterlichem Humor auch mal selbst auf den Arm nehmen. Mit anderen Einwanderern aus Südamerika gehen wir im Park picknicken oder veranstalten Grillpartys, teilen Freud und Leid, tauschen die für uns in der Fremde lebenswichtigen Informationen aus und haben viel Spaß.

Kafka ist Israeli
    Bevor ich von einer Immigrantin zu einer vollständig integrierten Israelin werde, muss ich die gefürchtete israelische Bürokratie durchlaufen, deren Ruf bis weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt ist. Sie «tyrannisch» und «willkürlich» zu nennen, ist keine Übertreibung – wohl eine späte Hinterlassenschaft der sozialistischen Ausrichtung während der Staatsgründung. Rasch begreife ich, dass Geduld hier nicht fehl am Platz ist. Ein ausgeprägter Sinn für Humor ebenso wenig.

    Da der Hebräischunterricht für uns Neue noch nicht begonnen hat, möchte ich die freie Zeit nutzen, um die administrativen Formalitäten rasch hinter mich zu bringen.
    Laut staatlicher Verordnung besteht der erste Schritt darin, sich seine Gasmaske abzuholen. Danach muss ich ein Bankkonto eröffnen, mir einen Identitätsausweis ausstellen lassen und mir eine Sozial- und Krankenversicherung zulegen. Die Gasmaske ist schnell besorgt. Mit meinem Immigrantenausweis gehe ich zur entsprechenden Ausgabestelle und bin sogleich Besitzerin eines brandneuen Notfallsets, das mich im Kriegsfall vor atomaren, chemischen und biologischen Waffen schützt. Neben der Gasmaske enthält das Set Wasser und eine Atropinspritze, die als Gegengift eingesetzt wird. Zwar bezweifle ich, dass mir damit bei einem Scud-Raketenangriff geholfen wäre, aber ich schiebe die Zweifel beiseite und gehe zum nächsten Punkt über. Nun wird es schon komplizierter. Um meine Rechte als Immigrantin geltend zu machen, muss ich Inhaberin
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