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Meinen Sohn bekommt ihr nie

Titel: Meinen Sohn bekommt ihr nie
Autoren: Isabelle Neulinger
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verbringen. Noch nie habe ich so gefroren. Und dabei habe ich in der Schweiz noch alle warmen Kleider vor meiner Abreise weggegeben…

Jerusalem
    Drei Monate im Eingliederungszentrum genügen. Ich habe den Eindruck, hier meine Zeit zu verplempern, und möchte nun endlich das wahre Leben in Israel kennenlernen. Mein Hebräisch ist gut genug, damit ich mich im Alltag durchschlagen kann, aber für eine anspruchsvolle Stelle wird es nie ausreichen. Also höre ich mit dem Hebräischunterricht am Morgen auf und setze stattdessen auf die Sprachen, die ich spreche, um möglichst in einer internationalen Firma unterzukommen. Ich beauftrage einen französischsprachigen Immobilienmakler, mir in Tel Aviv eine Wohnung zu suchen, und habe eine genaue Vorstellung davon, wie diese sein soll.
    Nach den turbulenten ersten Monaten möchte ich nun mehr vom Land sehen. David und Ayala laden mich nach Jerusalem ein. Meinen ersten Besuch in dieser symbolträchtigen, allseits begehrten, konfliktreichen Stadt werde ich nicht vergessen. Ayala holt mich im Wohnzentrum ab, am späten Nachmittag treffen wir in Jerusalem ein. Die letzten Sonnenstrahlen tauchen die Stadt und ihre Mauern in ein intensives Licht, so wie es im beliebten israelischen Lied «Jerusalem aus Gold» besungen wird, das 1967, am Vorabend des Sechstagekriegs, entstand.
    Von nun an nutze ich meine freien Wochenenden, um diesen heiligen Ort aufzusuchen, wo mich meine Verwandten herumführen, ihren Freunden vorstellen, mir ihr persönliches Jerusalem zeigen. Was David, der Archäologe, erzählt, fasziniert mich. Ich besuche die wichtigsten Stätten und Sehenswürdigkeiten, die Altstadt, den Ölberg, das Israelische Museum und die Gedenkstätte Yad Vashem, die an die Opfer des Holocaust, an die Widerstandskämpfer und auch an die nichtjüdischen «Gerechten unter den Völkern» erinnert, die im Krieg vielen Juden das Leben retteten.
    Die Tage vor dem Jahrtausendwechsel verbringe ich in Jerusalem. David und Ayala möchten mich am Silvesterabend zu einem Festessen bei Freunden in der Nähe von Tel Aviv mitnehmen. Silvester ist kein jüdischer Feiertag, aber meine Verwandten kümmert das wenig. Sie sind nicht religiös und möchten wie viele andere Israelis das neue Jahrtausend mit einer großen Party begrüßen.
    Der 31. Dezember 1999 fällt auf einen Freitag und somit auf den Beginn des Sabbats. Als wir am Abend mit dem Auto zu unserer Einladung fahren, sehen wir Gruppen von ultraorthodoxen Juden durch die Straßen hasten. Sie tragen weiße Strümpfe, Hüte und lange, schwarze Mäntel. Vollkommen unempfänglich für die ausgelassene Stimmung, die sie umgibt, kommen sie mir so weltfremd vor, dass ich ihnen zurufe: «Freunde, kommt auf die Erde zurück!» Dass ich später in ganz ähnlichen Kreisen verkehren würde, hätte ich mir zu diesem Zeitpunkt nicht im Traum vorstellen können.
    Das Wesen Jerusalems erschließt sich mir erst nach mehreren Besuchen, doch dem Charme von Tel Aviv erliege ich auf der Stelle.
    Obwohl die beiden Städte nur sechzig Kilometer voneinander entfernt liegen, könnten sie kaum unterschiedlicher sein. Gegenüber dem religiösen, zurückhaltenden, intellektuellen Jerusalem gibt sich das weltliche Tel Aviv offen, warmherzig, kunterbunt und entschieden der Zukunft zugewandt.
    In diesem Gegensatz spiegelt sich in gewisser Weise die Besonderheit der israelischen Gesellschaft, in der Säkulare und Gläubige, Rechte und Linke, Aschkenasen und Sepharden, Sabras und Immigranten und natürlich auch Juden und Araber zusammenleben und gleichzeitig miteinander rivalisieren.
    Nach einigen ergebnislosen Treffen zeigt mir der Makler ein Apartment, das in allen Punkten meinen Wünschen entspricht. Noch an Ort und Stelle unterschreibe ich den Mietvertrag. Die Wohnung ist geräumig und hell, sie hat hohe Decken und einen großen Balkon mit Blick über einen Innenhof mit Garten. Das Gebäude hat zwei Eingänge, einen zur Straße und zum Meer, den anderen im Untergeschoss zum Garten. Es liegt an der Hayarkon-Straße, die am Meer entlang von Süden nach Norden verläuft und von vornehmen Hotels sowie zahlreichen Botschaften gesäumt wird. Und es befindet sich direkt am Strand, unmittelbar gegenüber dem alten Hafen, der heute, schön herausgeputzt, mit seiner Holzpromenade, den Restaurants, Cafés, Clubs und Boutiquen zu den
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