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Meinen Sohn bekommt ihr nie

Titel: Meinen Sohn bekommt ihr nie
Autoren: Isabelle Neulinger
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angesagtesten Adressen von Tel Aviv zählt.
    Zwei Wochen später ziehe ich aus dem Eingliederungszentrum aus, der Abschied fällt mir leicht. Nur die Stromrechnung, die ich meinem elektrischen Ofen zu verdanken habe, lässt mich schlucken. Vermutlich werde ich Betsy und die anderen Immigranten, mit Ausnahme von Jacobo, nicht mehr wiedersehen. Jeder wird seinen eigenen Weg gehen.

Die Weiße Stadt
    Nun bin ich ganz allein in Tel Aviv – und glücklich darüber. Tel Aviv bedeutet auf Hebräisch «Frühlingshügel». Eigentlich heißt die Stadt Tel-Aviv-Jaffa, weil der erste Stadtteil im Jahr 1909 in Jaffa auf Sanddünen errichtet wurde. Im Übrigen verbindet die Tayelet, die prächtig angelegte Strandpromenade, auf fünfzehn Kilometern Länge den Norden der Stadt, wo ich wohne, mit dem alten Hafen von Jaffa, der im Gegensatz zum Hafen von Tel Aviv noch immer in Betrieb ist. Das Zentrum von Tel Aviv wird «Weiße Stadt» genannt, eine Anspielung auf die vielen auffälligen Gebäude im Bauhausstil, mit ihren klaren, asymmetrischen Linien, den Rundbalkonen und Flachdächern, die einen formvollendeten Anblick bieten. Daneben gibt es Gebäude, deren Architektur von orientalischen, amerikanischen und mediterranen Einflüssen bestimmt ist, für jeden Geschmack ist etwas dabei.
    Es ist Februar, der Winter neigt sich dem Ende zu. Ich nutze die milden Temperaturen, um dem Zauber dieser reizvollen Stadt auf den Grund zu gehen, die, zwischen Abend- und Morgenland, zwischen Tradition und höchster Modernität, vor Energie nur so sprudelt. Alles gefällt mir hier, die langen Alleen, die unzähligen Cafés, die Kunstgalerien und Dachterrassen, die Palmen, die Mosaiken und die Häuserwände, an denen Jasmin und Bougainvilleen herabwachsen. Von nun an ist das meine Stadt, hier bin ich zu Hause, um nichts in der Welt möchte ich woanders sein.
    Ich spaziere umher, stecke meine Nase überall hinein, nehme Farben und Düfte auf, fühle mich wie ein Fisch im Wasser. Ich richte mich schön ein, kaufe Möbel, einen Fernseher, eine Waschmaschine und alles, was das Leben annehmlich macht. Den Kühlschrank fülle ich mit Lebensmitteln vom Shuk Ha’Carmel, dem farbenfrohen Carmel-Markt, dem größten der Stadt. Seine Händler und Gemüsebauern sind für ihre Schlagfertigkeit bekannt, und man findet dort einfach alles, Kunsthandwerk, Kleider, Schuhe, Kosmetikprodukte, Küchenzubehör, Obst und Gemüse, Fisch, Blumen – noch dazu unglaublich frisch und zu einem unschlagbaren Preis. Es riecht nach Koriander und Kreuzkümmel, und der Granatapfelsaft, der dort ausgeschenkt wird, ist eine Köstlichkeit.
    Wenn ich unterwegs bin, esse ich häufig Hummus, Kichererbsenpüree, das im ganzen Nahen Osten beliebt und aus der israelischen Küche nicht mehr wegzudenken ist. In den Hummusias serviert man es mit Pita, dem orientalischen Fladenbrot, mit Sesampaste, Olivenöl, Zitronensaft, zerdrücktem Knoblauch, Pinienkernen und manchmal auch mit einem hartgekochten Ei und Bohnen. Es schmeckt wunderbar, ist nahrhaft und sehr günstig. Da jede Bevölkerungsgruppe Eigenes beisteuert, habe ich bei den vielen kulinarischen Spezialitäten, die an Gewürzen und Düften so verschieden sind wie ihre Herkunftsländer, die Qual der Wahl. Die Auswahl an Obst und Gemüse ist beeindruckend. Neben Avocados, Oliven, Trauben, Zitrusfrüchten, Granatäpfeln, Feigen, Datteln und Kakis gibt es noch etliche andere Früchte und Gemüsesorten, deren Namen ich nicht einmal kenne.
    Wenn ich nicht zu Fuß gehe, nehme ich ein Sherut, eine Art Taxibus. Man bezahlt wenig, kann überall zu- und aussteigen und zu jeder Tageszeit, an jedem Tag des Jahres damit fahren, außer an Jom Kippur. Mit seinen Sitzplätzen und der Klimaanlage ist es das ideale Transportmittel für die Stadt, vorausgesetzt, man ist kein Hasenfuß, denn die Chauffeure pflegen den landesüblichen Fahrstil.

    Wann immer sich die Gelegenheit bietet, besuche ich meine zauberhafte Großtante Flor. Sie genießt es, mich zu bekochen und mit ihrem charmanten Antwerpener Akzent Französisch mit mir zu sprechen. Ihr Mann war einer der zahlreichen Brüder meines Großvaters väterlicherseits, desjenigen mit den Diamanten im Reissack. Mit neunzig Jahren ist sie geistig noch hellwach und erzählt mir allerhand spannende Geschichten über ihre Ankunft in Israel
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