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Tanz auf Glas

Tanz auf Glas

Titel: Tanz auf Glas
Autoren: Ka Hancock
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    Prolog
    I ch lernte den Tod auf einer Party kennen. Wir feierten den zwölften Geburtstag meiner Schwester Priscilla, und ich war fünf Jahre alt. Sie war nicht sonderlich furchteinflößend, die Todesfee, aber ich hatte ja auch schon viel über sie gehört, deshalb machte sie keinen erschreckenden Eindruck auf mich. Bis mir klarwurde, dass sie gekommen war, um meinen Vater zu holen.
    Als kleines Mädchen hatten mein Vater und ich ein gemeinsames Morgenritual. Es begann mit dem Gluckern von Wasser in den rebellischen Rohren, die stöhnten und kreischten, wenn Dad den Wasserhahn aufdrehte. Ich wohne immer noch in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, und es klingt heute ganz genauso. Aber damals bedeutete das Geräusch für mich, dass mein Vater wach war.
    Ich weiß noch, wie ich dann die Treppe hinauftapste, mir den Schlaf aus den Augen rieb und mich den dunklen Flur entlang zur geschlossenen Badezimmertür vorantastete. Natürlich klopfte ich an, worauf mein Vater immer mit Singsangstimme rief: »Ist da meine Prinzessin Lulu?«
    Das fand ich herrlich, denn es verlieh meinem richtigen Namen, Lucy, ein märchenhaftes Flair, und so etwas kann eine Fünfjährige mächtig beeindrucken. Er öffnete die Tür, und das Licht blendete mich. Dann bat er mich ins Badezimmer, unser Allerheiligstes – nur mein Dad und ich. Der Raum war klein. Die Badewanne nahm eine ganze Wand ein, und die Ablage über dem Waschbecken war so winzig, dass kaum seine Rasierutensilien und ein Stück Seife darauf Platz hatten. Mickey beklagt sich auch darüber, selbst heute noch. Ich kletterte auf den Toilettendeckel und schlug mein Buch auf. Das war nämlich der vorgebliche Grund, weshalb ich jeden Morgen kam: um die Aussprache der Buchstaben zu üben.
    Währenddessen bereitete mein Vater sich am Waschbecken aufs Rasieren vor, und wenn er sich das Gesicht gründlich eingeseift hatte, bückte er sich herab, um mich zu küssen. Damit brachte er mich Tag für Tag zum Kichern. Jetzt bin ich dreiunddreißig, und ich kann seine Rasiercreme heute noch riechen und mich hell lachen hören.
    Mein Vater war ein massiger Mann. Sein Bauch hing beinahe im Waschbecken, und manchmal, wenn er sich vorbeugte, um etwas im Spiegel genauer zu inspizieren, klebte danach Seifenschaum an seinem nackten Bauch. Dann sagte er: »Sieh dir das an, Lu! Ich bin ganz weiß in der Mitte, genau wie ein Oreo-Keks.« Und noch ein Kuss und ein Kichern.
    Wenn er fertig war mit Waschen und Kämmen und Gurgeln und Ausspucken, spritzte er sich Old Spice ins Gesicht und erfüllte das Bad mit diesem unvergesslichen Duft. Ich habe immer noch eine Schwäche für Old Spice, aber ich will nicht, dass Mickey es benutzt.
    Ich erinnere mich an jede Einzelheit dieser Morgenstunden. Von den gelben Handtüchern auf dem Boden bis hin zu dem Waschbecken voll Seifenwasser, dem Radio, das leise im Hintergrund lief, und der frisch gebügelten Uniform, die innen an der Tür hing.
    Der Ort, in dem wir wohnen, Brinley Township, kannte meinen Vater als Sergeant James Houston – Jim für den Rest der Welt und Jimmy für meine Mutter und seinen Partner Deloy Rosenberg. Ich sah so gern zu, wie sich mein verschlafener, nur halbbekleideter Vater mit dem wirr abstehenden Haar in Sergeant James Houston verwandelte! Wenn er in der blauen Uniform, die meine Mutter jeden Abend für ihn bügelte, das Badezimmer verließ, hielt ich ihn für unbesiegbar. Für mich war es schlicht unvorstellbar, dass irgendetwas ihn je verletzen könnte, von zwei winzig kleinen Kugeln ganz zu schweigen. Ich dachte, Sergeant James Houston aus Brinley Township sei gleichbedeutend mit »unzerstörbar«.
    Doch eines Tages erklärte uns Mrs Delacruz, meine Kindergärtnerin, dass alle Lebewesen sterben. »Alle, ohne Ausnahme«, sagte sie, und das machte mir Sorgen. Ich muss meinen Vater wohl danach gefragt haben, ich erinnere mich nicht genau. Ich weiß nur noch, wie er eines Abends neben meinem Bett kniete und mit mir darüber sprach. Lily, vier Jahre älter als ich, lag in ihrem Bett daneben und tat so, als schliefe sie. Deshalb flüsterte er, als er folgende schreckliche Erklärung abgab: Mrs Delacruz hatte recht, alle Lebewesen starben tatsächlich irgendwann. Ich muss ziemlich entsetzt gewesen sein, denn er nahm meine Hand, küsste sie und rieb sein stoppeliges Kinn daran. Dann sagte er zu mir: »Lulu, du brauchst vor dem Tod keine Angst zu haben. Weißt du, es gibt Geheimnisse über den Tod, die nicht jeder kennt.« Ich
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