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Stolen Mortality

Stolen Mortality

Titel: Stolen Mortality
Autoren: Jennifer Benkau
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Kraft zum Leben

    Schottlands Schafe haben die Angewohnheit, mit stoischer Gelassenheit mitten auf der Straße zu stehen.
    Selten, dass Jamian Bryonts sich daran störte. Er verließ sich auf seine Reflexe, den abschätzbaren Bremsweg des Minis, sowie den Überlebenstrieb der Tiere und trat aufs Gas. Einerseits, weil er oft zu spät losfuhr, Unpünktlichkeit wiederum verabscheute, was er durch seinen Fahrstil kompensieren musste. Andererseits, weil er gern schnell fuhr.
    Auch an diesem Sommerabend ließ er die erlaubte Höchstgeschwindigkeit weit hinter sich. Ein Song von Snow Patrol aus dem Autoradio übertönte das Klappern des Handschuhfachs. Jamian trommelte im Rhythmus der Drums auf dem Lenkrad und unterbrach dies nur, um sich Weingummis in den Mund zu schieben. Der Wind, der durch das geöffnete Fahrerfenster in den Mini blies, zerzauste ihm die Haare. Im Westen zeugte nur noch ein rötlicher Saum über den Hügeln davon, dass den ganzen Tag die Sonne geschienen hatte. Die letzten Reste einer heilen Welt, die zum Untergang verdammt war. Jeden Abend aufs Neue.
    Jamian befand seine romantische Ader für gut durchblutet, aber Sonnenuntergänge entlockten ihm selten mehr als ein finsteres Grinsen. Eine weitere Nacht brach herein. Eine Nacht, die Arbeit für ihn bedeutete. Was oft genug Ärger mit sich zog.
    Erneut griff er auf den Beifahrersitz, doch unter seinen Fingern knisterte nur noch die leere Tüte. Einen Fluch grummelnd fragte er sich, wie man auf einer Fahrt von fünfzehn Minuten eine ganze Packung englischen Weingummi – Preis: immerhin drei Pfund – leer machen konnte. Tante Holly hatte ihm als Kind immer erzählt, zu viel von diesem Sassenach-Zeug würde den Magen verkleben und für ein tagelanges Problem auf dem stillen Örtchen sorgen. Denkste.
    In nostalgischen Gedanken und Appetit nach weiteren Süßigkeiten versunken, parkte er seinen Wagen vor dem Backsteinhaus, in dem er mit seinem jüngeren Bruder lebte. Er tätschelte die Motorhaube und ging hinein. Kein Laut drang aus dem oberen Stockwerk. Junias war vermutlich noch unterwegs. In seinem Zimmer im Obergeschoss ließ Jamian sich am Schreibtisch nieder und sah aus dem Fenster in die windverwaschenen Farben der Dämmerung. Andere seines Alters gingen jetzt ins Kino, oder rauchten einen Joint, fuhren nach Inverness in einen Club und rissen ein paar Miezen auf.
    Er spielte den Vampirjäger.
    Ohne jede Vorwarnung wurde die Tür aufgestoßen, knallte gegen die Wand und ein großer Gegenstand flog auf Jamian zu. Reflexartig hob er die Arme, um seinen Kopf zu schützen. Er bekam den Drehstuhl zu fassen, den sein Bruder mit unwirklicher Kraft nach ihm geworfen hatte, dennoch traf eine der scharfkantigen Metallrollen seine Schläfe. Blut sickerte ihm über die Braue ins Auge. Der Schmerz setzte etwas zeitverzögert ein. Für einen Moment konnte Jamian an nichts anderes denken, als Junias den verdammten Stuhl über den Schädel zu ziehen. Genau so, wie er es verdient hätte!
    „Mann, was ist in dich gefahren?“, brüllte er ihn an. „Bist du irregeworden ?”
    Junias verharrte bewegungslos in der Tür. Sein Gesicht war tränennass. In der linken Faust zitterte ein zerdrücktes Blatt Papier, altmodisch mit schwarzer Tinte von einem breiten Federkiel beschrieben.
    Jamian wusste, was in dem Brief stand. Resignierend ließ er den Stuhl auf den Boden fallen.
    Es war das Urteil. Sein eigenes Urteil. Es kam nicht überraschend, keineswegs. Aber viel früher als erwartet. Er brauchte es nicht zu lesen, er wollte es gar nicht lesen.
    Sein Leben würde aufgrund dieses Stück Papiers von nun an ein anderes sein. Er sollte wohl nicht mal mehr zwei Tage älter werden.
    „Du … du Mistkerl!”, stieß Junias hervor. „Wie kannst du mir das antun?“ Mit dem Ärmel wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht.
    Jamian erwiderte nichts und schluckte den Zorn hinunter , wie er es sich zur Gewohnheit gemacht hatte. Er konnte sich vorstellen, wie schmerzhaft die Schuldgefühle an seinem Bruder fraßen, denn in der Hand hielt Junias das Urteil, das Jamian die Sterblichkeit nehmen sollte. Für ein Vergehen, das er nicht begangen hatte. Einen Fehler, durch den ein Menschenleben ausgelöscht worden war. Totschlag nannten sie es, aber das traf es nicht.
    „Du hättest das nicht auf dich nehmen dürfen, Jamian! Es war meine Strafe – meine Schuld! Auf dem verfluchten Wisch hier sollte mein Name stehen, nicht deiner. Du verdammter Lügner!“
    „June, komm schon, reg dich
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