Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden
Autoren: Felicitas Mayall
Vom Netzwerk:
 
    DER STURM bog die alten Pinien landwärts, bis ihre Äste barsten. Abgerissene Zweige und Büschel von langen Nadeln wirbelten durch die Nacht. Im Westen, nur ein paar Meter hinter dem Pinienwald, wütete das Meer, fraß sich immer tiefer in den schmalen Sandstreifen, den es bisher verschont hatte, grub die Wurzeln der Macchia aus. Oktobersturm.
    Zu früh und zu wild, dachte Ernesto Orecchio und zuckte zusammen, als ein Ast auf das Dach des kleinen Wärterhäuschens krachte. Er stand auf und setzte den Schnellkocher in Gang, brauchte dringend einen Kaffee. Beinahe drei, und diese Nacht wollte kein Ende nehmen. Seine Müdigkeit war lähmender als sonst, und er fürchtete sich davor, einzuschlafen. Deshalb hatte er den Fernseher ausgeschaltet und ging seit zehn Minuten auf und ab. Immer auf und ab. Zweimal hatte er das Kleinkalibergewehr in die Hand genommen, es entsichert, gesichert und wieder in die Ecke gestellt. Zu lesen wagte er nicht, dabei fielen ihm sofort die Augen zu. Ihm blieb nur dieses ruhelose Wandern in dem kleinen Raum. Sechs Schritte nach links, sechs Schritte nach rechts. Zehnmal und dann eine kurze Pause auf einem Stuhl, aber nicht zu lang. Wie in so vielen vergangenen und vermutlich auch vielen künftigen Nächten. Zum Glück hatte er nur jede dritte Woche Nachtdienst. Er fragte sich, warum sie noch immer nicht da waren.
    Er füllte Espressopulver in eine Tasse, gab einen Löffel Zucker dazu und goss die Mischung mit heißem Wasser auf. Es roch gut, obwohl er Instantkaffee eigentlich verabscheute. Aber die Espressomaschine hatte vor ein paar Wochen den Geist aufgegeben, und bisher war niemand bereit gewesen, sie zu ersetzen.
    Wieder fiel etwas, kreischend und gewaltig diesmal, als würde ein großes Gebäude einstürzen. Das Wärterhäuschen erzitterte. Das musste die große Pinie am Rand der Einfahrt gewesen sein. Sie hätte auch direkt auf das Häuschen fallen können. Orecchios Herz drängte gegen seinen Brustkorb, als wollte es entkommen. Ihm war, als erinnerte es sich in diesem Moment an das Erdbeben im Friaul, das er als Kind erlebt hatte. Sein ganzes Dorf war damals in sich zusammengefallen, hatte sich in wenigen Sekunden in einen Haufen Steine verwandelt. Er wollte sich nicht daran erinnern, denn wenn er das tat, sah er unweigerlich die Beine seiner Tante Amalia zwischen den Steinen hervorragen. Orecchio hatte seine Tante nie wiedergesehen. Aber diese starren Beine waren ihm unauslöschlich im Gedächtnis geblieben. Manchmal träumte er von ihnen, obwohl das alles nun weit über dreißig Jahre her war.
    Er schüttelte den Kopf, als könnte er damit die alten Bilder loswerden, und legte eine Hand auf sein Herz, das noch immer zu groß schien für seine Brust. Endlich trat er ans Fenster und starrte hinaus. Der fallende Baum hatte offensichtlich die Beleuchtung vor dem Wärterhäuschen heruntergerissen. Draußen war es stockdunkel. Regen schlug gegen die Scheiben, kam in Wellen wie das Meer. Der Sturm trieb die Wasserschwaden vor sich her. Orecchio konnte nichts erkennen. Beinahe war er froh, wollte gar nicht sehen, was da draußen passiert war. Er konnte sowieso nichts machen.
    Warum kamen sie nicht? Spätestens zwei Uhr hatten sie gesagt. Spätestens. Orecchio schlürfte vorsichtig seinen Kaffee, verbrannte sich aber trotzdem die Lippen. Fluchend stellte er die Tasse ab, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund – und verharrte lauschend. War das ein Motor da draußen? Er griff nach dem Gewehr, ging langsam zur Tür, zögerte, legte sein rechtes Ohr an das Holz. Mit dem rechten Ohr hörte er besser. Falls er richtig gezählt hatte, waren alle zurück, die so spät im Jahr noch im Resort wohnten. Die letzten zwei Wagen gegen halb elf, Schweizer, die eines der Häuser direkt am Strand besaßen. Es wurden nicht mehr viele Häuser vermietet in Il Bosco . Die Besitzer der Villen hatten es nicht nötig, und sie mochten keine Fremden im Resort. Ernesto Orecchio und seinen Kollegen vom Wachdienst war das sehr recht. Es erleichterte die Arbeit. Im Oktober standen die meisten Häuser leer. Ende der Saison.
    Wenn also wirklich ein Wagen da draußen war, mussten sie es sein. Vermutlich hatte das schlechte Wetter sie aufgehalten.
    Jetzt hörte er nur noch das Heulen des Sturms. Orecchio lehnte das Gewehr neben die Tür, griff nach der großen Taschenlampe und öffnete die beiden Sicherheitsriegel. Die Tür lag nach Osten; der Sturm kam von Westen, deshalb hatte er keine Mühe, sie zu öffnen.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher