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Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden
Autoren: Felicitas Mayall
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dachte sie, als sie barfuß über die kühlen Kacheln lief, um den runden Esstisch herum und in die kleine Küche des Ferienhauses. Sie nahm eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank und trank schnell aus der Flasche. Wasser lief über ihr Kinn, tropfte auf ihre Brust. Zwei Wochen, dachte sie wieder. Lange her, dass sie zwei Wochen mit nur einem Menschen verbracht hatte.
    Sie hatte um diese zwei Wochen gekämpft: mit ihrem Vorgesetzten, mit ihrem Ex-Mann Ronald, der sich um ihre Kinder Sofia und Luca kümmern musste. Sie hatte sich gefreut und im letzten Augenblick doch beinahe gefürchtet. Wovor, das konnte sie allerdings nicht genau benennen. Vor einem Ende der Unverbindlichkeit? Möglich. Aber nicht sicher.
    Das seidene, dunkelblaue Unterkleid klebte an ihren Brüsten, so viel Wasser hatte sie verschüttet. Sie schaute an sich herab und musste lächeln. Nie zuvor hatte sie ein seidenes Unterkleid besessen. Eine sündhaft teure Premiere in ihrem siebenundvierzigsten Lebensjahr. Über die tieferen Ursachen dieser Premiere wollte sie an diesem Morgen nicht nachdenken. Die Münchner Kriminalhauptkommissarin im blauen Seidenhemd.
    Sie sah aus dem schmalen Fenster in den Hinterhof des Hauses und entdeckte eine große dürre Katze, die zu ihr herüberstarrte. Ihr fiel wieder ein, was Guerrini von den wilden Katzen erzählt hatte, die stets um die Ferienhäuser von Il Bosco strichen, sobald Menschen einzogen. Wie er sie als kleiner Junge gefüttert hatte, wenn er mit seinen Eltern den Sommer am Meer verbrachte. Manchmal zwei Monate im Jahr. In genau diesem Haus, das einem Geschäftsfreund seines Vaters gehörte.
    Laura stellte die Flasche auf den Tisch und schaute von der Galerie auf den Wohnraum hinunter. Es war ein durchaus edles Haus. Zwei, drei antike Möbelstücke, große Polstermöbel mit gelben Leinenbezügen, alte Stiche an den Wänden. Sie lauschte, als erneut eine Welle auf den Strand knallte und die Fensterscheiben klirren ließ, ging dann langsam die sanft geschwungene Wendeltreppe hinab, durch das Wohnzimmer zur Terrassentür und trat in den Garten hinaus.
    Der Himmel hatte ein stumpfes Orange angenommen, jene Färbung des Sonnenaufgangs, die häufig auf Stürme folgt. Die Luft war so klar und voller Meeresduft, dass Laura meinte, winzige Salzkristalle auf ihrer Haut zu spüren. Sie duckte sich unter den tropfenden Zweigen der Tamarisken, genoss das feuchte Gras unter ihren Füßen und folgte dem schmalen Pfad zwischen den Macchiabüschen über eine flache Düne zum Strand. Doch es gab kaum noch Strand. In dieser Nacht hatte sich das Meer erhoben, die kleinen, strohgedeckten Sonnenschutzhütten weggefegt, war die Dünen hinaufgestürmt, hatte die Wurzeln der vordersten Büsche bloßgelegt. Jener Büsche, die sich ohnehin wie verzweifelt vom Meer wegstreckten, auf der Flucht vor Salz und Sturm.
    Ungläubig betrachtete Laura den schmalen Streifen dunklen Sandes, der vom Strand zurückgeblieben war, und das noch immer tobende Wasser. Wie durchgegangene Pferde rannten die Wogen gegen das Land an, schäumend, sich überschlagend, getrieben von einer unbändigen Kraft. Weit hinter den rollenden Wellen stiegen die Berge der Insel Montecristo aus einer Wolke auf, als hätten sie keine Verbindung zur Erde, schwebten über dem Wasser, wie auf einem Gemälde von Magritte.
    Laura wusste selbst nicht, warum sie einfach weiterging. Das Wasser war erstaunlich warm, doch es war nicht freundlich. Es zog ihr die Beine weg, warf sie um, zwang ihr sein Gesetz auf. Sie musste unter den Wellen durchtauchen, raus aus der Brandung ins Tiefe, oben bleiben, Luft schnappen und wieder runter. Nach einer Weile glaubte sie, das Gesetz zu kennen, doch immer wieder wurde sie von einer Woge verschüttet, herumgewirbelt wie eine Puppe. Sie schluckte Wasser, meinte zu ertrinken und empfand trotzdem ein wildes Glücksgefühl. Es ist wie lieben, dachte sie. Dachte nichts mehr, als sie erneut untergetaucht wurde.
    Panik erfasste sie erst, als sie unter Wasser mit etwas Großem zusammenstieß. Es fühlte sich an wie ein schlaffer Riesenkrake. Sie meinte Fangarme zu spüren, stieß das Ding von sich, kam nicht weg davon. Gemeinsam mit ihm, in einer verrückten Umarmung, wurde sie von der nächsten Woge überrollt. Als sie wieder auftauchte, war das Ding plötzlich verschwunden.
    Das Ufer schien ganz nah. Sie schwamm ein paar wilde Züge, wurde in die wirbelnde Brandung gezogen und wusste, dass dieses tosende Wasser sie hochheben und auf den
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