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Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden
Autoren: Felicitas Mayall
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Als er den breiten Strahl seiner Lampe auf die Einfahrt des Resorts richtete, sah er nichts als einen Haufen zersplitterter Äste. Ernesto Orecchio kniff die Augen zusammen. Wenn sie jetzt kamen, dann konnten sie nicht durchfahren. Dann musste ein anderer Plan her. Niemand hatte je daran gedacht, dass die Einfahrt blockiert sein könnte. Niemand außer ihm, Orecchio, aber er hatte keine Ahnung gehabt, wem er das hätte sagen sollen.
    In diesem Moment vollführte der Sturm eine boshafte Drehung und warf sich mit aller Macht gegen ihn. Orecchio schwankte und hielt sich am Pfosten des Vordachs fest. War da nicht doch ein Motorengeräusch? Zögernd wandte er sich zu seinem Gewehr um, das noch immer neben der Tür lehnte. Nein, er brauchte kein Gewehr. Nicht bei diesem Sturm. Da wollte bestimmt keiner ins Resort, um eine Villa auszuräumen.
    Als er wieder zu dem umgestürzten Baum hinübersah, meinte er ein Licht zwischen den Ästen zu erkennen. Er griff nach seiner Öljacke, die an einem Haken neben dem Eingang hing, und schlüpfte hinein. Orecchio kam es vor, als müsse er durch einen Wasserfall hindurch. Das Atmen machte ihm Mühe, und plötzlich hatte er die absurde Vorstellung, dass er im Regen ertrinken könnte. Er stolperte über Äste und umrundete die zerschmetterte Baumkrone. Es war die schönste und älteste Pinie der ganzen Gegend. Jetzt lag sie da. Orecchio blieb erschrocken stehen. Unter dem Gewirr aus Zweigen ragte das Heck eines Wagens hervor, der Motor lief noch, und die Lichter waren eingeschaltet.
    Wieder sah Orecchio die Beine seiner Tante Amalia vor sich. Er dachte: «Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.» Ernesto Orecchio sammelte Sätze kluger Leute. Jedenfalls nahm er an, dass sie klug waren, wenn ihre Aussprüche in Büchern und Kalendern gedruckt wurden. Dieser war einer seiner Lieblingssätze, denn er stimmte. Tante Amalia war zu spät aus dem Haus gelaufen, und das hier war ein weiterer Beweis! Wenn sie um zwei gekommen wären, dann hätte es keine Schwierigkeiten gegeben.
    Besorgt wartete er darauf, dass sich in dem begrabenen Wagen etwas rührte.
    Als sich nach zwei Minuten noch immer nichts getan hatte, bog er die Zweige auseinander und schaute durch das Heckfenster. Er konnte nichts erkennen, der Kombi hatte dunkelgetönte Scheiben. Das wusste er ja. Es war fast immer dieser Wagen, der alle drei oder manchmal auch sechs Wochen in den frühen Morgenstunden nach Il Bosco kam. Nur die Farbe wechselte. Manchmal war er weiß, dann wieder blau oder schwarz. Ernesto Orecchio bekam fünfhundert Euro dafür, dass er in diesen Nächten nicht einschlief, sondern die Schranke aufmachte, wenn der Wagen kam, und sie ein zweites Mal öffnete, wenn er wieder wegfuhr. Und dafür, dass er keinem etwas davon erzählte und sich bereithielt. Wofür, wusste er nicht genau.
    Als dieser Fremde ihn vor ungefähr einem Jahr angesprochen hatte – nicht während seines Dienstes, sondern als er in einer Bar am Marktplatz von Portotrusco einen Caffè Corretto trank, da hatte er sich plötzlich wie in einem der Fernsehfilme gefühlt, die er bei seinen Nachtdiensten sah. Es war kein billiger Gauner gewesen, obwohl er eine große Sonnenbrille getragen hatte. Vielleicht war er sogar Ausländer, jedenfalls hatte er einen Akzent gehabt. Ein harmloses Gespräch über Il Bosco hatte er angefangen. Er habe Orecchio schon ein paarmal an der Schranke beim Eingang gesehen.
    Und dann hatte er von wichtigen diplomatischen Geheimsachen gesprochen. Er suche jemanden, auf den er sich hundertprozentig verlassen könne. Hundertprozentig! Zweimal hatte er das gesagt. Und dass Orecchio ihm empfohlen worden sei. Von wem, das wollte der Fremde nicht sagen.
    Orecchio hatte die Hände gehoben und heftig den Kopf geschüttelt.
    «Mit Drogen läuft bei mir nichts!», hatte er geantwortet, daran erinnerte er sich genau. Der Fremde hatte gelächelt und gesagt, dass es mit Drogen überhaupt nichts zu tun hätte. Es handle sich ausschließlich um Geheimdiplomatie, manchmal sei sogar der Vatikan beteiligt. Il Bosco wäre ein hervorragender Ort, um solche Treffen abzuhalten.
    Dann brachte er die fünfhundert Euro ins Spiel. Pro Monat! Ernesto Orecchio verdiente als Wärter siebenhundert im Monat und nebenher als Gärtner noch zweihundert. Auch damals war ihm der Satz von Gorbatschow eingefallen, und er hatte ja gesagt. Ohne weiter zu überlegen. Was war schon dabei, die Schranke aufzumachen und sich alle paar Wochen eine Nacht um die Ohren zu
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