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Tanz auf Glas

Tanz auf Glas

Titel: Tanz auf Glas
Autoren: Ka Hancock
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zwischen unseren Gästen umherschwebte, so nebulös wie das Innere einer Wolke. Einmal sah sie mich sogar an, sah mir direkt in die Augen. Wenn mein Vater mir nichts von ihr erzählt hätte, so hätte ich, glaube ich, trotzdem gewusst, wer sie war. In diesem Moment entstand eine unverbrüchliche Verbindung, die unmöglich zu leugnen war. Sie kannte mich ebenfalls. Sie lächelte mir zu – meinem fünfjährigen Selbst –, doch sie sah meine erwachsene Seele, und meine erwachsene Seele begriff: Sie würde auch mich holen kommen. Aber noch nicht an jenem Tag.
    Nein, da kam sie wegen meines Vaters. Und er muss das auch gespürt haben, denn er begegnete meinem Blick vom anderen Ende des Gartens aus. Ich sehe sein Gesicht noch vor mir, das Wissen in seinen Augen. Sein Blick sagte mir, dass ich mich nicht zu fürchten brauchte – er fürchtete sich auch nicht.
    Ich hielt ihn immer noch für viel zu groß, als dass er sterben könnte, für viel zu stark und mächtig, als dass ihn etwas verletzen und töten könnte. Aber zwei winzig kleine Kugeln taten genau das. Er starb am Tag nach Priscillas zwölftem Geburtstag, als er einen Landstreicher daran hindern wollte, Arnies Tankstelle zu überfallen.
    Der Tod holte meine Mutter zwölf Jahre danach. Und dann gab es nur noch uns drei Mädchen, Lily, Priscilla und mich.

[home]
    1
    D r. Barbee. Mittagessen mit Lily. Sachen von der Reinigung abholen. Mickey in der Klinik besuchen. Während ich frierend auf der Untersuchungsliege wartete, ging ich die Termine des Tages an den Fingern durch. Charlotte Barbee hatte gesagt, sie werde gleich zurück sein, aber das war schon mehrere Minuten her. Ich zählte wieder an den Fingern ab: Mittagessen. Reinigung. Mickey. Da war noch irgendetwas, aber ich konnte mich nicht daran erinnern. Genau genommen konnte ich einfach nicht über Mickey hinaus weiterdenken. Er war seit sechs Tagen dort – nachdem er natürlich schon tagelang vorher nicht wirklich Mickey gewesen war. Aber heute Morgen hatte er sich gut angehört, als sei er beinahe wieder da.
    Charlotte kam hereingeeilt und entschuldigte sich sofort. »Diese verflixte Versicherung! Glauben wohl, ich hätte nichts anderes zu tun …« Sie schnaubte und atmete dann tief durch. »Also, wo waren wir stehengeblieben, Lucy?«
    Ich brauchte nur einen Augenblick, um mich wieder richtig hinzulegen und die Füße, genauso eiskalt wie alle anderen Körperteile, in die Metallbügel zu stellen. »Warum ist es hier so kalt, Charlotte? Das ist wirklich fies.«
    Als sie nicht antwortete, hob ich den Kopf vom Kissen und sah ihr Gesicht zwischen meinen angewinkelten Knien hängen. Sie rückte dort unten ein Spekulum zurecht, um einen besseren Blick auf das zu haben, was meiner Meinung nach überhaupt niemand genauer betrachten sollte.
    »Wie geht es Mickey diese Woche?«, fragte sie. Sie fuhr mit ihrer Untersuchung fort und ignorierte meine Bemerkung über die Temperatur im Raum.
    »Besser als letzte Woche«, sagte ich und sog bei ihrer unangenehmen Berührung scharf die Luft ein.
    »Ist er noch in der Klinik?«
    »Ja. Aber wenn er sich weiter gut macht, kann er am Freitag nach Hause kommen. Also hoffe ich, dass er sich gut macht.«
    Charlotte Barbee lächelte ihr wissendes Lächeln. »Wie lange seid ihr jetzt verheiratet?«
    »Fast elf Jahre.«
    »So lange? Kaum zu fassen. Wie die Zeit verfliegt …«, sagte sie. »Ein paarmal tief einatmen, bitte.«
    Die tiefen Atemzüge brachten mich zum Husten, und da fiel mir Nummer fünf ein: Hustenpastillen kaufen.
    Ich war zu meiner alljährlichen Untersuchung dort, und Charlotte Barbee war außerordentlich gründlich. Sie wusste, wonach sie suchte, und falls sie es fand, würde ich es ihr auch diesmal sofort ansehen. Man hätte das Ganze für einen normalen Check-up halten können, doch die Wahrheit war etwas komplizierter. Ich wurde nach Hinweisen auf neue Tumore abgesucht. Die erste Krebsdiagnose war vor sieben Jahren gestellt worden, als ich sechsundzwanzig gewesen war. Danach gehörte ich nicht mehr zur medizinischen Gruppe »Gesunde erwachsene Frau«, sondern in die vorsichtiger zu beurteilende Kategorie jener, die eine Krebserkrankung überlebt haben. Zumindest so lange, bis ich fünf Jahre lang frei geblieben war. Ich schlafe deutlich ruhiger, seit ich mit meinen beiden Schwestern wieder zu den Gesunden zähle. Der gleiche Krebs, der meine Mutter und Großmutter umgebracht hat, bedroht auch Lily, Priscilla und mich. Und weil diese genetische Zeitbombe
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