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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer
Autoren: Sándor Márai
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A ugenblicke, in denen die Stille – in uns und um uns – so groß wird, dass wir das geheime Ticken des Weltmechanismus zu hören glauben.
    Ein Toter in Pistoia, in der Kirche.
    Niemand kümmerte sich um ihn. Man hat ihn aufgebahrt, den Sarg ohne Schmuck und ohne Blumen in der Kirche abgestellt und ist weggegangen.
    Am Nachmittag trat ich ein, ziellos, wie man in den Kirchen italienischer Kleinstädte umherzustreifen pflegt. Ich war aus Florenz gekommen, mit dem Wagen. Der Frühling ging zu Ende, es sah nach Regen aus. Unter dem violetten Himmel bogen sich entlang des Weges Zypressen im warmen Wind. Die Luft war schwer mit dem schwülen Duft von Lorbeer und Mimose, dem Geruch der Regenwolken, als trocknete feuchte, schlampig gewaschene, graue Unterwäsche in den Höhen. Eine schirokkohafte Leidenschaft huschte zwischen den schwarz-weißen Steinen des toskanischen Städtchens, als trieben sich noch immer Guelfen und Ghibellinen in den Häusern herum. Dante erwähnt Pistoia.
    Der Tote setzte mich in Erstaunen. Er lag so einsam da, so schmucklos, so bar jeder Festlichkeit und falscher Pietät wie jemand, der seinen Verwandten und Landsleuten nicht einmal durch die Tatsache seines Todes eine geheuchelte kleine Ehrenbekundung abzuringen vermocht hatte. Er starb, wurde in einen Sarg gelegt, mitten in der Kirche abgestellt. Der Küster würde ihn am Morgen schon finden.
    Ich war jung und hatte in meinem Leben noch nicht viele Tote gesehen. Diesen konnte ich nun ungestört, beliebig lange betrachten. Sonst hatten stets Weihrauch, Gesang, schwarz-weiße Draperien, Klagegeschrei und viele Blumen die Toten umgeben. Dieser Tote war ungeschmückt: ein Mann in mittleren Jahren, in schwarzem Gewand, zwischen vier Brettern. Seine gelbe Nase überragte mächtig den zahnlosen Mund. Er wirkte ernst, gleichgültig. Seine Kleider glichen denen eines Armen, wenn er sich festlich, schwarz anzieht.
    Da begriff ich zum ersten Mal, dass der Tod nichts Schreckliches, sondern Gleichgültigkeit ist. Und auch eine Art Fest, bei dem man sich schwarz kleidet. Wenn er stirbt, wird jeder zum Armen und kleidet sich schwarz.
    Die Tabaktrafikantin , die nie vorrätig hatte, was ich gerade verlangte. Sie saß in einer kleinen Bude an der Straßenecke zwischen ranzigen Töpfen, lumpigen Häkeleien, abgegriffenen Papierbögen. Durch den Spalt, bei dem sie die Ware hinausschob und das Geld einstrich, strömte aus dem Budeninneren ein Geruch wie aus einem Pumakäfig auf die Straße. So saß sie inmitten ihrer muffelnden Näpfe, alt, mit rotem, aufgequollenem Gesicht, zerzausten grauen Haaren, leeren, blauen, immerfort tränenden Augen, und bot etwas feil, was sie gerade nicht da hatte. Verlangte ich Zigaretten, konnte sie mir keine geben, aber »die Lieferung ist gerade unterwegs«. Verlangte ich Briefmarken, empfahl sie mir Streichhölzer. Bat ich um Streichhölzer, wollte sie mir Briefpapier aufdrängen. Verlangte ich Zigarren, lächelte sie mit einem Anflug von Hochmut wie jemand, der für müde, eitle Scherze nichts übrig hat. Wollte ich die Morgenzeitung haben, versuchte sie mir die Zeitungen vom vergangenen Abend oder zwei Wochen alte Magazine anzudrehen.
    Manchmal glaubte ich, dass sie mich foppte. Jahrelang ließ ich nicht locker, führte zur Probe Kontrollen durch, überquerte die Straße, blieb – im Winter, bei Nebel – vor ihrer Bude stehen und verlangte etwas mit tiefer, verstellter Stimme. Sie ließ sich nie täuschen: Sie habe die gewünschte Ware gerade nicht vorrätig, aber »sie ist schon unterwegs«. Immer versprach sie alles für den nächsten, übernächsten Tag. Mir war es unbegreiflich, wovon sie eigentlich lebte, wovon sie die ranzigen Esswaren für ihre Töpfe, das Heizmaterial für den eisernen Ofen kaufte. Sie war vollkommen und makellos wie ein Meisterwerk der Natur. Zehn Jahre lang beobachtete ich sie, stellte sie auf die Probe. Später blieb ich nur noch einmal pro Jahreszeit vor dem Fenster ihrer Bude stehen und verlangte etwas. Aber sie erkannte mich sofort: »Memphis?«, sagte sie schadenfroh, »habe ich nicht. Vielleicht Mirjam gefällig?«
    Das Erwachen an frühen Wintermorgen, wenn du spürst, dass du noch gesund bist, Zeit und Alter noch nicht an dir nagen. Kleidest dizitternd, aber gut gelaunt im eisigen Zimmer an. Auf den Straßen treibt Schnee im frostigen Wind; die ersten Straßenbahnen spucken im Dunkeln ein heiseres gelbes Licht, wie Zechbrüder, wenn sie sich frühmorgens mit krächzender Stimme
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