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Meinen Sohn bekommt ihr nie

Titel: Meinen Sohn bekommt ihr nie
Autoren: Isabelle Neulinger
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Abendnachrichten. Die Aktion ist ein voller Erfolg: Die 15000 Unterschriften sind gesammelt. Ich möchte sie an die Schweizer Behörden weiterleiten.
    Ein unglaublicher Zufall wird an diesem Tag den Dingen eine neue Wendung geben. Ein Herr wird auf meinen Stand aufmerksam und nähert sich. Es stellt sich heraus, dass er Richter in Straßburg ist und in Lausanne lebt. Wir wechseln ein paar Worte, in aller Kürze erläutere ich ihm meinen Fall. Er unterschreibt zwar nicht die Petition, doch er macht mir Mut, indem er mir zu verstehen gibt, dass eine Anrufung Straßburgs möglicherweise nicht umsonst sei: «Man muss es auf jeden Fall versuchen. Viel Glück!»

    Ich schlafe nicht mehr. In Gedanken spiele ich jede Möglichkeit durch. Mir ist bewusst, dass ich keine Ruhe finden werde, bevor ich nicht alles versucht habe, um mit Noam hierbleiben zu können. In den Medien ruft der Fall ein starkes Echo hervor, juristische Fachblätter verurteilen und kritisieren offen das Bundesgericht. Die Leute sind überwiegend auf meiner Seite und entrüsten sich über das Los, das einem Kind dieses Alters beschieden ist. Ich entschließe mich, alles auf eine Karte zu setzen und dabei keine Kosten zu scheuen, und wähle den Gang vor den Europäischen Gerichtshof. Das Geld für die ersten Prozessgebühren leihe ich mir.
    Am 19. September teile ich Monsieur Lestourneaud meine Entscheidung mit. Nun gilt es, das Verfahren vor dem Gerichtshof zu eröffnen und vor allem Eilanträge zu stellen, damit die auf den 30. September angeordnete Ausweisung Noams aufgehoben wird. Es ist meine einzige Chance, unsere Zukunft hängt davon ab. Ein Rennen gegen die Zeit beginnt.

    Am 25. September fährt Monsieur Lestourneaud mit dem Antrag nach Straßburg. Uns bleiben noch genau fünf Tage. Ich weiß, dass sich beim Europäischen Gerichtshof Tausende unbearbeiteter Akten stapeln, und da kommen wir, einige Tage bevor die Frist abläuft, und stellen Eilanträge!
    Wieder stellt sich bei mir das alte Fluchtverhalten ein: Stets habe ich eine Tasche in greifbarer Nähe mit allem, was Noam und ich für eine Reise benötigen. Wie im Juni 2005 in Tel Aviv…

    Am 26. September bringe ich Noam in Frankreich an einen sicheren Ort. Sollte es zum Äußersten kommen, weiß ich, was ich zu tun habe: Wenn es mir gelungen ist, aus Israel zu entkommen, gibt es für mich keinen Grund, nicht auch das Risiko einer Flucht aus der Schweiz auf mich zu nehmen. Notfalls werde ich in Südamerika untertauchen. Eines ist jedoch gewiss: Meinen Sohn bekommen sie nicht.

    Am 27. September fahre ich um neun Uhr morgens mit dem Auto zur Arbeit, als mich das Klingeln des Handys zusammenzucken lässt. Ich fange an zu zittern, weil ich davon ausgehe, dass unser Antrag abgewiesen wurde. Aber ich habe um ein Wunder gebeten, und das Wunder ist geschehen. Monsieur Lestourneauds Freude ist deutlich spürbar: Wider Erwarten wurde seinem Gesuch stattgegeben. Der Straßburger Gerichtshof hat per einstweiliger Verfügung die Schweizer Regierung aufgefordert, Noams Rückkehr nach Israel nicht weiter voranzutreiben.
    Ãœberwältigt vor Glück baue ich um ein Haar einen Unfall.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
    Die Erleichterung, die ich empfinde, ist unbeschreiblich. Die Schweizer Regierung leistet der Aufforderung Folge und setzt die Rückführungsanordnung außer Kraft. Mein Sohn wird in der Schweiz bleiben, zumindest vorläufig.
    Die Nachricht wird von allen Schweizer Medien aufgegriffen und verbreitet sich bis nach Israel, wo sich auch die Öffentlichkeit für den Fall zu interessieren beginnt.
    Â«Wir haben noch nicht gewonnen», stellt Monsieur Lestourneaud klar. Die einstweilige Verfügung ist der erste Schritt in einem Prozess, der sehr langwierig und sehr kompliziert zu werden verspricht. Das Schwierigste steht uns noch bevor: Wir müssen die Richter von der Richtigkeit unseres Antrags überzeugen, sie dazu bringen, ihre Rechtsprechung zu lockern, die in Fragen der Kindesentführung äußerst streng ist. Und vor allem müssen wir sie daran erinnern, das übergeordnete Wohl des Kindes, meines Kindes, nicht aus den Augen zu verlieren.
    Bei dem Gedanken, dass ich, eine einfache Mutter, die Schweizer Regierung vor der höchsten gerichtlichen Instanz Europas herausfordere, wird mir schwindlig. Wie anmaßend! Bin ich diesem ungeheuerlichen
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