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Meinen Sohn bekommt ihr nie

Titel: Meinen Sohn bekommt ihr nie
Autoren: Isabelle Neulinger
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Rückkehr nach Israel Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt habe, in dem die Achtung des Familienlebens festgeschrieben ist. Auch macht er einen Verstoß gegen Artikel 6 geltend insofern, als das Bundesgericht das übergeordnete Kindeswohl nicht berücksichtigt habe.
    Sieben Richter sind zur Abstimmung aufgerufen, um 11.30 Uhr fällt der Urteilsspruch: Mit vier zu drei Stimmen kommt das Gericht zu dem Schluss, dass die Schweiz nicht gegen die Menschenrechtskonvention verstoßen habe.
    Ich habe verloren. Noam wird nach Israel zurückkehren müssen.
    Drei Richter haben mir recht gegeben. Sie werden daraufhin von der israelischen Presse scharf angegriffen, die nur ein Detail interessiert: die Bezeichnung der Chabad-Lubawitsch-Gemeinschaft als «radikal». Auch im Internet hagelt es unfreundliche Proteste, den Richtern, die für mich Partei ergriffen haben, wird Antisemitismus unterstellt.
    Das Fernsehen taucht bei meinem Vater auf. Die Medien, die mich unterstützt haben, bitten um ein Interview. Ich versuche, einen kühlen Kopf zu bewahren. Doch in Wirklichkeit bin ich mit den Gedanken ganz woanders. Ich konzentriere mich schon darauf, wie es weitergehen wird. Und vor allem habe ich schreckliche Angst um meinen Sohn.

Die letzte Karte
    Alain Lestourneaud lässt sich von diesem äußerst knappen Urteil nicht entmutigen. Er analysiert es gründlich und kommt zu dem Schluss: «Ich glaube, wir sollten es bei der Großen Kammer versuchen. Sind Sie einverstanden?»
    Ich bin offen gestanden davon ausgegangen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Endstation sei. Daher überrascht es mich, dass eine weitere Berufung möglich ist. Sie ist jedoch die allerletzte Chance, die uns auf unserem langen Marsch durch die Gerichte bleibt.
    Monsieur Lestourneaud erklärt mir, dass die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs nur selten angerufen werde. Die Rechtssache müsse schon außerordentlich sein und eine schwerwiegende Frage hinsichtlich der Auslegung der Europäischen Menschrechtskonvention aufwerfen. Nach seiner Einschätzung sind diese Voraussetzungen in unserem Fall erfüllt. Und ich erfahre, dass die provisorischen Maßnahmen, die der Straßburger Gerichtshof angeordnet hat, so lange Bestand haben, wie das Berufungsverfahren läuft. Während der drei Monate, in denen der Ausschuss der Großen Kammer unseren Antrag prüft, kann Noam also weiter in der Schweiz bleiben. Wieder verschwindet das Gespenst einer Zwangsrückführung im letzten Augenblick.
    Ich habe nichts zu verlieren und nehme den Vorschlag meines Anwalts an. Von einer guten Freundin leihe ich mir das nötige Geld und gehe wieder einmal aufs Ganze. Monsieur Lestourneaud reicht fristgerecht unseren Antrag bei der Großen Kammer ein. Lehnt sie ihn ab, ist das Gerichtsurteil bindend. Und die Schweiz wird meinen Sohn ausweisen.

    Im Juni wird Noam sechs Jahre alt, was wir zum Anlass nehmen, um mit der Familie für ein paar Tage nach Südfrankreich zu fahren. Genau an Noams Geburtstag ruft mich Monsieur Lestourneaud an: Die Große Kammer wird sich mit unserem Fall befassen. Zudem wird es eine öffentliche Anhörung im Palast der Menschenrechte in Straßburg geben. Als Datum hat der Gerichtshof den 7. Oktober 2009 festgelegt. Zusammen mit Vertretern der Schweizer Regierung werden wir vor Gericht erscheinen.
    Ich kann es kaum glauben. Lachend erzählt mir Monsieur Lestourneaud, dass er in den Bergen Forellen geangelt habe, als ihm seine Frau die Nachricht des Gerichts überbrachte. Vor Schreck ließ er den Fisch entkommen, der an seiner Angel hing.
    Die Entscheidung des Kammerausschusses lässt in mir die Hoffnung aufkommen, dass wir in den eisigen Gängen der Justiz doch noch auf offene Ohren und Mitgefühl stoßen werden.
    Einige Tage später teilt mir Monsieur Lestourneaud mit, dass der Präsident der Großen Kammer, der gleichzeitig Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist, die einzelnen Parteien zu einer schriftlichen Stellungnahme auf maximal dreißig Seiten auffordere.
    Mein Anwalt vollbringt das Kunststück, innerhalb der gesetzten Frist und auf der vorgegebenen Seitenzahl den gesamten Fall Punkt für Punkt abzuhandeln. Er erwähnt selbstverständlich den alles entscheidenden Artikel 13, Absatz 1b, des Haager Übereinkommens, verweist auf die Gefahr für
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